Isa von Bernus

Irene - Oder die Verwandlung eines Herzens

Mit einem Nachwort von Irmhild Mäurer

 

Die Geschichte dieser Geschichte

 

Maja

 

Vielleicht ist das der Sinn des Scheins,

Wie sichs im Traume zeigt,

Dass Gott im tiefsten Grund des Seins

Durch alle Zeiten fort und fort

Im ungeoffenbarten Wort

Die wahre Welt verschweigt.

(Alexander von Bernus)

 

Es ist seltsam, die "Irene" wieder vor sich zu haben. Lange ist es her, daß diese Geschichte geschrieben wurde. All die Jahre über lag sie mit anderen Erzählungen und Gedichten in der Mappe von "Helen Landek". Habe ich sie geschrieben? Oder hat Helen Landek sie geschrieben? Wer ist Helen Landek?

Sie gibt es im Traum Und aus dem Traumreich stammt diese Geschichte. In diesem Sinne soll sie den Menschen hoffentlich Spannung und Freude bringen.

 

Schloß Donaumünster, im Oktober 1996

 

Isa von Bernus

 

— — —

 

Irene

oder die Verwandlung eines Herzens

 

I.

Der Usurpator läutete. Als nach Atemzugs Länge niemand erschien, läutete er wieder. Schrill gellte es durch den Raum. - Die Ordonnanz erschien, kerzengerade und unbeweglich stand sie in der Türe. Die Augen blickten stumm aus einem schmalen Gesicht. Beide Männer maßen sich eine Sekunde lang. Dann der Usurpator:

"Sagen Sie Donna Irene, ich erwarte sie - sofort!"

"Zu Befehl", die Ordonnanz verbeugte sich kurz und ging zur Tür.-

Kaum war die Türe geschlossen, fiel der Usurpator in sich zusammen. So ging es nun seit Wochen. Er konnte nichts mehr denken. Sein Gehirn war wie ausgelöscht. Seine Gedanken waren die Beute von Gewalten geworden, derer er nicht Herr wurde. Seine Hand, diese Hand, befehlsgewohnt, hieb auf die Platte des Schreibtisches, als könne er damit die Herrschaft über sich wiedererlangen. Dann hielt sie inne, die Finger streckten sich, lange grausame Finger. Sie begannen, ungeduldig zu trommeln. Jetzt würde sie kommen. Donna Irene, die er begehrte. Sie mußte kommen, sofort. So sein Befehl. Er galt noch, unumschränkt. Alle waren in seiner Hand, alle.

Draußen stand die Ordonnanz, die Arme verschränkt. 'Der Usurpator ist auf dem Weg zum Wahnsinn', dachte er. Wie seine Augen aus düsterem Gesicht geflackert hatten. 'Donna Irene, arme Donna Irene', flüsterte er vor sich hin. Donna Irene war schön, sie war heiter, sie anzuschauen war Glück. Was wollte der da drinnen noch mit ihr? Mit ihm war es zuende. Man wußte es, alle wußten es. Diejenigen, die anders dachten, fürchteten nur den Sturz aus ihrer liebgewonnenen Position. Er, der Mann, der die Ordonnanz war, mußte den Befehl ausrichten. Er mußte der Handlanger von Befehlen sein, die ihm zuwider waren.

Einstmals war es anders gewesen, einstmals hatten diese Befehle ihn berauscht. Einstmals war der da drinnen sein Herr gewesen. Damals war er noch jung, unreif. Bereitwillig hatte er sich der Heldenverehrung hingegeben. Jetzt war alles anders. Größenwahn, Verbrechertum, Dünkel, nichts als Dünkel war an die Stelle der einstmaligen Größe getreten. Das hatte weh getan, das zu erkennen. Er wußte, daß eine Geheimverbindung bestand. Konspirativ, im Untergrund, arbeiteten die Besten des Landes am Sturz des Usurpators. Er war nicht dabei. Er war feige. Er zitterte vor den Ausbrüchen des Usurpators, der von einem Dämon beherrscht wurde. Der Dämon schützte ihn. Der Dämon sättigte sich von Blut, das ungerecht vergossen wurde. Jeden Tag verlangte er nach neuem. So befriedigte sich der Dämon und schützte den Herrscher, lieh im Gewalt und Macht. Aber der Preis, die Rechnung, die todsicher kommen würde?

Der junge Mensch ging durch die endlosen Korridore. Seine Schritte hallten. Er ging Treppen hinauf, wieder hinunter, dann wieder lange Flure - das Gebäude glich einem Labyrinth. Das Haus hatte der Herrscher sich eigens bauen lassen. Den gesamten Bauplan kannte nur er. Niemand sollte sich vollständig darin auskennen. Auch die Ordonnanz nicht. Jeder hatte eigene Weisung, bestimmte Wege darin zu gehen. Wurde einer in einem nicht für ihn bestimmten Teil erwischt, war das sein Todesurteil. Das wagte niemand.

Er kannte den Weg zu Donna Irene. Wie oft war er ihn gegangen. Und sie war nie gekommen. Der Herrscher wollte sie lebendig. Ihre unverbrauchte Jugend, ihr Blüte hatte er gewollt. Sie brauchte deshalb den Tod nicht zu fürchten und konnte widerspenstig sein. Das Privileg der Schönheit. Aber heute, heute mußte sie kommen, das war gewiß.

Er trat ins Freie, wo der Efeu anfing sich zu ranken und die Wand zum ersten Male rot war vom wilden Wein. Auf der anderen Seite des kleinen, gartenartigen Vorhofs, in dem viele Dahlien blühten, war die Wohnung Irenes.

Die Ordonnanz läutete. Es wurde geöffnet.

"Botschaft des Herrschers für Donna Irene", hörte er seine Stimme sagen. Ein Augenblick verstrich, dann ging eine andere Tür, man sah in ein leeres Zimmer. Hell. Blumen in Vasen. Teppiche. Farben. Dann stand sie im Raum. Mittelgroß, sehr schlank, sehr rote Lippen. Die Ordonnanz strecke sich, nahm Haltung an und stieß hervor:

"Befehl des Herrschers, sofort zu erscheinen."

Es war eine Stille im Raum. Sie sah ihn mit strahlenden Augen an.

'Sonnenhafte Augen', dachte er, 'aber traurig sind sie.'

Sie lächelte. Mit diesem kleinen Lächeln und einem unmerklichen Heben der Schulter entließ sie ihn: "Ich werde befehlsgemäß erscheinen..."

"Erlauben, Donna Irene, daß ich auf Sie warte. Ich werde Sie zum Herrscher führen."

"Sie dürfen. Warten Sie und führen Sie mich, wer weiß, wohin!" Ihr Mund lächelte, die Hände schimmerten weiß.

"Sieben Minuten Geduld."

Sie verschwand. Im Nebenzimmer sah sie auf ihre Armbanduhr und setzte sich auf einen Sessel. Dann faltete sie ihre Hände und blickte in den Raum, ohne zu sehen: Langsam schlossen sich ihre Augen. Die langen Wimpern lagen wie zwei Sichelmonde. Genau drei Minuten saß sie so. Dann atmete sie tief durch, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm das Bild eines jungen Menschen in die Hand.

"Marco", sagte sie, "Marco" - und stellte das Bild behutsam wieder an seinen Platz. Sah noch einmal darauf, und dann, wild den Kopf schüttelnd, trat sie vor den Spiegel. Überprüfte sich kurz, lächelte und ging hinaus. Nach kurzer Zeit erschien sie wieder. Sie hatte einen Pelzmantel umgeworfen. Die Ärmel baumelten lose. Sie ging nochmals zum Schreibtisch, riß einen Zettel aus einem Block und schrieb mit großen Buchstaben: "Glaube an mich!" Den Zettel ließ sie liegen, nahm eine orangenfarbene Dahlie aus einer Schale und legte sie auf das Blatt.

"Hier bin ich", sagte sie, indem sie in das Zimmer eintrat, wo die Ordonnanz wartete."Führen Sie mich befehlsgemäß!"

Der Mann schwieg. Wie schön sie war. Eine ganz unwirkliche Atmosphäre ging von ihr aus.

"Gehen wir schon", dunkel klang ihre Stimme, "schnell, gehen wir...!"

Der Weg kam ihr lang vor. Ihr seidenes Kleid rauschte beim Gehen. Ihr Gehirn arbeitete. Sie war, als ihr befohlen worden war, mitzukommen, nicht erschrocken. Sie wußte, daß es einmal würde sein müssen. In Sekundenbruchteilen zogen die Bilder ihres bisherigen Lebens vor ihrem geistigen Auge vorbei. Sie war behütet aufgewachsen, nichts Schreckliches war ihr widerfahren. Aber ihr war immer gewesen, als wartete sie auf etwas. Irgendetwas, was ihr Engel gerade ihr zugedacht hatte, wartete auf sie. Sie glaubte an ihren Engel.

Dann war Marco in ihr Leben getreten. Dieser Marco, der das Zimmer hell machte, wenn er zu ihr kam. Er war Mensch in dieser entmenschten Zeit. Er haßte den Herrscher. Dieser Haß war so inbrünstig, daß sie, wenn er davon sprach, ihn lodern sah wie eine Flamme. Er war einer der Führer der Geheimorganisation, die am Sturz des Herrschers arbeitete - damit die Menschheit wieder aufatmen konnte Es ging in jeder Minute um sein Leben. Wie sie sein Leben liebte und seinen Haß! Und seine Liebe, die ihr galt.. Wenn er da war, war sie geborgen. In dieser Geborgenheit machte es auch nichts, dem Herrscher vorgestellt zu werden, der sie mit seinen Augen verbrannte. Sie tat es Marco zuliebe, daß sie es dazu kommen ließ. Man wußte, daß den Usurpator außergewöhnliche Frauen reizten, und Marco wollte ihm auf diese Weise näherkommen. Schöne Frauen mußten bei allen Empfängen dabei sein. Sechs zur Rechten, sechs zur Linken, und die allerschönste mußte hinter dem Herrscher stehen, wenn er seine grausamen Audienzen abhielt. Wenn sie im Halbkreis um ihn standen, war er gestärkt. Er nannte es seine 'Mondenparade'. Kerzen brannten an den Wänden, wenn Irene hinter ihm stehen mußte und ihre Augen auf seinen Rücken sahen. Seit einem halben Jahr war dieses Erleben. 'Sie sind sofort zu hängen, sie sind zu foltern, dann zu erschießen.' All diese schneidenden Sätze verfolgten sie in ihren Schlaf. Seit einem halben Jahr mußte sie diesen Auftritten beiwohnen. Sie tat ihren Dienst. Sie hatte schön zu sein. Sie hatte zu lächeln. Doch wenn Marco sie in die Arme nahm, war alles gut. 'nicht mehr lange...', hatte er gestern geflüstert. 'Er ist auf dem Wege zum Wahnsinn.' Und er hatte sie in die Arme genommen und ihr die Haare aus der Stirn gestreichelt, so, als wolle er alle Gedanken hinter ihrer Stirne beschwichtigen. Ach, sie konnte stark sein. Ihr Engel hielt sie. Und manchmal, wenn es unerträglich wurde, dann war ihr, als würden Wesenheiten sie stärken. Und nun war sie befohlen worden. Sie allein.

Sie ging einsam in diesen endlosen Gängen, begleitet von der Ordonnanz. Ihre Schritte hallten im Gleichklang. Sie sprachen kein Wort. Hinter seiner Stirn war Trauer um ihr Schicksal und um ihre Schönheit, und ein Ingrimm ob seiner Ohnmacht. Sie aber lächelte, wie Kinder lächeln, wenn sie bald weinen, und es doch nicht wahrhaben wollen, weil doch irgend jemand helfen wird ...

 

 

II.

 

Sie waren da. Flügeltüren öffneten sich. Einen unmerklichen Abschiedsgruß winkten ihre Augen ihrem Begleiter zu, der zur Seite trat, um sie einzulassen. Unmerklich hob sich ihre linke Schulter, strich sie über ihre Hüfte, dann gingen ihre langen Beine wie aufgezogen über die Schwelle, hiner der ein einziger Befehl über Leben und Sterben entschied.

 

Der Herrscher saß noch in seinem Schreibsessel. Seine Kinnbacken schoben sich aufeinander, daß seine Zähne knirschten. Sie kam noch immer nicht. Wie lange sollte er hier sitzen und auf die Ausführung seines Befehls warten? Wie lange sollte er warten? Seine Hand umfaßte eine Steichholzschachtel und ballte sie zusammen. Die Hölzer gaben einen Ton von sich, als würden sie mißhandelt. Er ließ die Schachtel fallen, stützte nachdenkend seinen Kopf. Der ehemalige Freund Baranoff hatte kurz vor seiner Verhaftung zu ihm gesagt: 'Ihr macht Euch so nur Feinde, mein Fürst ... Wenn Ihr Euch wenigstens die Jugend geneigt machtet...' Er wußte, was dieses 'so' hieß, aber er konne es nicht ändern. Er mußte sich seiner Macht bedienen, um seine Widersacher zu vernichten. Aber die Jugend. Das Wort von Baranoff hatte ihm zu denken gegeben. Er hatte beschlossen, der Jugend einen großen Park anzulegen, mit Zwingern für wilde Tiere, mit abenteuerlichen Labyrinthen, mit Spielplätzen, Karussellen, Sportplätzen, Schwimmbädern, Spielbazaren. Er wollte diesen Park einweihen mit Schwelgereien für die Kinder - die ihm später dienen würden. Der Herrscher nahm Papier aus seinem Schreibtisch und begann, diesen Plan hinzuwerfen Es machte ihm Freude. Seine Ungeduld wurde dadurch gebändigt Oft, wenn er Zeit unterbringen wollte, zeichnete er, schon als Kind, wenn die Unruhe seines Herzens ihn zu sprengen schien. Ganze Tage hatte er damit verbracht, Pläne zu entwerfen: Häuser, Städte, die er aus seiner kindlichen Vorstellung schon damals beherrschte. Auch heute begann das Zeichnen ihn abzulenken von seinem Warten. Es machte ihm Freude zu sehen, wie seine Hand das im Geist Geschaute festhielt. Wenn er nicht der Herrscher wäre, würde er Bildhauer oder Maler sein. 'Aller Sinn des wirklichen Lebens kommt aus gebändigter Phantasie', dachte er. 'Können und Phantasie sind der Vorhof zur Macht. Es lebe die Macht...' Und als er den Tierpark zeichnete, durchfuhr es ihn, daß in einem der Käfige auch wohl ein Verräter zur Schau gestellt werden könnte, als Abschreckung für seine Feinde. Immer mußte er an seine Feinde denken. Seine Stirn faltete sich. Seine Striche auf dem Papier wurden stärker.

Es wurde an der Türe geklopft. Der Fürst, seiner Zeichnung hingegeben, alles andere vergessend, schrie:

" Es ist jetzt nicht zu stören!"

So kam es, daß Donna Irene, als sie endlich kam, nicht, wie sie es geglaubt hatte, sofort zum Usurpator geführt wurde, sondern, als die Flügeltüren sich öffeten, erst in einen Vorraum eintreten mußte, um zu warten. Sie dachte, wieviel weniger sie sich hätte beeilen müssen, und an ein Wort ihres Vaters: 'Alles erledigt sich von selbst.' Hätte sie vielleicht gar nicht zu kommen brauchen? Donna Irene sah sich um Sie nahm den kleinen Raum auf, der mit verschwenderischer Pracht eingerichtet war, und mußte sich gestehen: Geschmack hatte der Herrscher, oder wenigstens die Köpfe, die für ihn arbeiteten. Sie ließ sich in einen Sessel fallen. Ach, wenn sie doch entlassen würde. Sie wußte von den Gedankensprüngen des Herrschers. Vielleicht hatte er sein Sie-sehen-wollen schon wieder vergessen! Sie war gar nicht mutig, verweht und armselig fühlte sie sich. Wie etwas, das man nehmen und wegwerfen konnte. Ihre Sicherheit verschwand. Eine Stehlampe beleuchtete ihr Haar und ihre Hände. "Arme Hände", sagt sie laut und hatte die Augen voll von Tränen Mit einer zornigen Bewegung trocknete sie sie. Warum weine ich nicht ruhig weiter? Dann wäre ich häßlich, daß er mich gar nicht hier behielte. Warum tue ich es nicht? Sie stand auf, nahm aus ihrer Tasche einen Silberkamm und fuhr damit durch ihr Haar, daß es knisterte. Seltsames Doppelwesen ist doch der Mensch. Hier zu sein war unwirklich. Irgendwie sah sie sich selbst zu. Hier zu warten auf etwas, was man nur ertrug, wenn man mitten hineinsprang. Dieses Warten war grauenvoll. Ihr Blick fiel auf einen Haufen Bücher, der wahllos auf dem Tische lag. Sie nahm ein kleines, schmales, in fraisefarbenes Marocainleder gebundenes Bändchen heraus. Es waren Verse einer Frau. Irene blätterte verwundert. Wie kam dieses Bändchen hierher? Hatte es jemand unabsichtlich oder absichtlich liegenlassen? Ihr Auge fiel auf eine Zeile:

 

Musik tönt in die Lage der Traurigkeit.

Irene blickte versonnen:

Musik tönt in die Lage der Traurigkeit..

Die Lage der Traurigkeit. Ach, keine Musik tönte da hinein. Sie schlug nervös das Büchlein wieder auf und las, zuerst ohne Aufmerken und dann den Versen hingegeben:

 

Im Leben, im Leben - was ist da zu schwer...

Ach, so vieles ist da zu schwer.

Es gibt Klänge, die hinüberleiten

An ein Ufer,

An ein weites Ufer

Mit weidengestrüpp.

 

ES liegt so vieles verstreut umher.

Man möchte Ordnung schaffen

Und kann es nicht.

Das abschüssige Ufer

Nimmt den Boden unter den Füssen.

Der Schrei

Zerbricht in der Einsamkeit.

 

Einsamkeit des Herzens,

Einsamkeit-

Verzweifelte Einsamkeit.

Städte bröckeln-

Häuser Fallen

Herzen werden durchstochen.

Das Weidengestrüpp windet

Mit dem Schlagen des herzens.

Es lebe die Gerechtigkeit.

Das dasteht über allem

Und meine Hände hält

Geschwisterlich.

 

'Und meine Hände hält geschwisterlich...' Irene legte das Bändchen hin. In ihr war plötzlich eine zuversichtliche Gläubigkeit. Nein, sie wollte hier nicht sitzen wie ein kleines Mädchen, sie wollte sich den Zufällen des Lebens würdig zeigen. Vor was hatte sie Angst? Nichts konnte ihr geschehen. Das Schicksal war gnädig. Es konnte in diesem Leben einen vernichten, es konnte im schlimmsten Fall einen hinwegnehmen. Aber was lag daran? Viele Reiche gab es. Viele Reiche führten weiter, immer weiter. Weit fort von den hiesigen Furchtbarkeiten. 'Der du meine Hände hälst geschwisterlich...'

Sie stand auf, ging zur Wand und läutete.

Als der Offizier vom Dienst erschien, sagte sie hochmütig, indem sie sich in ihren Pelz einhüllte: " Ich habe keine Lust, länger zu warten. Ich gehe nach Hause. Sagen Sie das dem Herrscher."

"Aber Madonna...", sagte der Offizier mit sichtbarem Schrecken.

Irene lächelte: "Nein, ich warte nicht länger, melden Sie das bitte...", und als er sie beschwörend ansah: "Dies mein letztes Wort."

"Bleiben Sie aber auch, wenn ich versuche, noch einmal zum Herrscher vorzudringen, damit ich Sie auch wieder vorfinde, sonst müßte ich sie bewachen lassen. Das letzte sagte er fast hilflos.

"Sie können es halten ganz nach Belieben", sagte Irene stolz, "Ich werde den Bescheid, den Sie mir bringen werden, hier abwarten. Aber sagen Sie ausdrücklich, ich wartete nicht länger. Bitte, ganz wörtlich!"

Der Offizier vom Dienst verschwand.

 

III.

Der Herrscher zeichnete noch immer. Aber sein Interesse war schon nicht mehr ganz dabei. Wieder wurde geklopft. Der Offizier vom Dienst trat ein. Bewegungslos stand er und meldete:

"Donna Irene...", weiter kam er nicht. Der Usurpator sprang auf.

"Es hat lange gedauert. Man lasse sie sofort eintreten. Ich will nicht mehr gestört werden." Eine ungeduldige Bewegung fegte die Zeichnungen von seinem Schreibtisch. "Sie soll eintreten, sofort!". Darauf hatte er gewartet. Er strich über seine Stirne und lachte. Ein befreiendes Lachen. Nun kam sie...

Der Offizier vom Dienst, der die Blätter vom Boden aufgehoben hatte, verschwand schleunigst mit einem unsicheren Blick auf den Herrscher. Von seinen Lippen kam ein Seufzer. Er war enthoben, Donna Irenes Botschaft auszurichten!

 

IV.

"Donna Irene möchte sofort eintreten..."

Irene erhob sich. Sie war plötzlich weiß wie die Türe, auf die sie zuschritt. Sie schritt auf die Tür zu, die zum Vorzimmer des Herrschers führte. Als der Offizier hinzusprang, um ihr den Pelzmantel abzunehmen, schüttelte sie abweisend den Kopf und zog den Mantel enger um sich. Sie durchging das Vorzimmer, dessen mit Teppichen ausgelegter Boden ihre Schritte unhörbar machte. Der Raum war groß. Ach, alles mußte gegangen sein. Es war ein weiter Weg. Die Flügeltüre sprang auf - sie überschritt die Schwelle zum Herrscher - die Türe schloß sich. Und da stand sie, schmal und fast klein wirkend in dem Riesenraum, in dessen Mitte der Schreibtisch stand, an dem der Herrscher nun wieder saß und ihr entgegenblickte.

Der Raum war von einem ungewöhnlichen Ausmaß. In der Mitte stand der Schreibtisch des Usurpators. Darüber ging die Decke in einer großen Wölbung in eine kreisrunde Kuppel über. Durch diese schien das Tageslicht hindurch, und wenn die Sonne schien, war es dem Herrscher, als umflösse ihn eine Lichtgloriole. Er empfand dann seine von ihm empfundene Gottähnlichkeit besonders stark, und nie waren seine Befehle eindeutiger, als wenn das Licht in Streifen durch die Kuppel um seinen Körper floß. Er, der herrliche herrische Herrscher. Alle sollten das empfinden. Abends wurde durch die Betätigung eines Hebels die gläserne Kuppel überdeckt. Dann brannten dahinter Glühbirnen, die im Effekt dasselbe versuchten wie die Sonne. Rechts vom Herrscher waren zwölf Fenster, hohe Fenster, die bis zum Boden gingen und hinausführten in einen Garten, der augenblicklich schimmerte in allen Farben des Herbstes, angedunkelt von der vorgerückten Stunde des Tages. Genau in der Mitte der Lichtwand, also nach sechs Fenstern, war eine hohe Flügeltüre, die hinausführte in einen Gang, der irgendwohin ins Bodenlose ging, vielleicht in Gefängnisse, wer weiß, wohin. Diese Türe war bekannt als die 'Schreckenstüre'. Da hinein traten die Gefangenen, wenn sie zum Herrscher befohlen wurden, der sich mit ihnen noch einmal unterhalten wollte. Es waren meist einstige Freunde des Herrschers, Offiziere, geistige Menschen, die da eintraten durch diese Türe, die hinaus und hinein führte in ein dunkles Schicksal. Dieser Schreckenstüre gegenüber, also links vom Herrscher, in der Mitte der Wand, war dieselbe Türe, durch die die Näherzugelassenen eintreten durften. Diese kannte Irene. Durch diese Türe schritt sie als Mittelpunkt der 'Mondenparade'. Es war eine ungefährliche Türe, soweit ein Eingang, der zum Herrscher führte, überhaupt ungefährlich sein konnte. Genau hinter dem Rücken des Schreibtischsessels befand sich eine gleiche Türe. Durch diese ging nur der Herrscher in seine persönlichen Gemächer. Die vierte Flügeltüre war dem Schreibtischsessel gegenüber. Dahin blickte der Usurpator, wenn er saß. Durch diese Türe kamen die Empfänge, die Audienzen. Alle, die da hineinkamen, konnte der Herrscher mit einem Blick überschauen Sie hatten dann noch einen weiten Weg, um zu dem Schreibtisch zu gelangen, vor dem mehrere Sessel und ein niedriger Tisch standen. Die Schwelle hatte Irene heute zum ersten Male überschritten.

Und da stand sie, von ihrem Mantel eingehüllt. Sie sank mit einer Verbeugung zusammen. Der Herrscher ließ sie knien, sah sie nur an.

"Ihr kommt spät", sagte er dann leise, mit einer ihr ganz fremden Stimme. "Ich habe lange gewartet..."

"Ich auch!"

Er mißverstand sie, konnte sie nicht verstehen, da er von ihrem langen Warten im Vorzimmer nichts wußte. "So steht auf und kommt her." Noch immer saß er steif, und seine fanatischen Augen überprüften sie.

Sie kam ganz langsam näher, ganz langsam. Als sie kurz vor dem Schreibtisch war, fühlte sie ihre Knie nachgeben. So kam es, daß sie sich auf den Sessel vor dem Schreibtisch setzte, sonst wäre sie umgesunken. Der Usurpator runzelte seine Stirn. Er hatte sie nicht aufgefordert, sich zu setzen, und doch saß sie da wie selbstverständlich. Aber sie war schön, schön und wie entrückt. Er unterließ eine Rüge.

Es war eine lange Pause zwischen ihnen. Sie erhob ihre Augen zum Herrscher - 'eine seltsame Bläue', dachte er - und sagte schlicht.

"Ihr habt mich rufen lassen?"

"Ich habe Euch rufen lassen, um ..." Dann wieder ganz Herrscher: "Ich wollte Euch fragen, Donna Irene: Was denkt Ihr, wenn Ihr hinter mir steht bei all meinen Empfängen und meinen Rücken betrachtet? Was denkt Ihr da?"

"Ich sehe Euren Rücken selten an, mein Fürst ... ich denke..."

"Was denkt Ihr?" fragte er wieder und beugte sich vor. "Was denkt Ihr...?"

Da hörte sich Irene sprechen und es war ihr, als sähe sie sich selber zu: "Daß Ihr Macht habt, mein Fürst!"

"Ja", sagte er wild und stand auf. "Ich habe die Macht." Mit einer weitausholenden Gebärde sagte er es, so als holte er die Macht in sich hinein. Er ging um seinen Schreibtisch herum und stand neben ihr. "Ich habe Macht", sagte er und legte eine kühle Hand, die brannte, auf ihren Nacken. Mit der andern ließ er ihren Mantel heruntergleiten. Sie wollte aufspringen, aber die Hand, die ihren Nacken umspannte, hielt sie.

"Ihr braucht Euch nicht zu fürchten", sagte seine Stimme. "Ich will Euch nicht, noch will ich Euch nicht." Er ließ sie los und ging mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf dem Teppich hin und her. Sie schwieg. "Ich habe Euch herbitten lassen..."

"Ihr habt mich herbefohlen", trotzte sie auf. Worauf er sich vor ihren Sessel stellte und auf sie niedersah:

"Wenn Größe befiehlt, bittet sie trotzdem!"

Sie sah ihn unsicher an - mit welcher Selbstverständlichkeit er es sagte. Eine Helle war in seinen Augen - oder kam sie von dem Licht, das verscheidend durch die Kuppel floß? Irene blickte in das Kreisrund, sie war bei den Wolken, die im Abendschein dahinzogen. Er stampfte mit dem Fuße auf:

"Donna Irene, bleibt hier, wenn ich Euch herbat. Schwimmt nicht weg in irgendeinen Raum!" Er ging zum Schreibtisch und drückte auf einen Knopf. Im selben Augenblick schloß sich die Kuppel, Licht flammte auf, so übervoll, daß sie erschrocken die Augen schloß. "Zu hell für Traumgestalten...?", gütig klang seine Stimme. "Nun denn", sagte er nachgebend, und das Licht erlosch. Der Raum war nun mit Wandarmen beleuchtet, nur aus der Mitte der Kuppel floß ein sanfter Strahl in das Zimmer. Die Gardinen schlossen sich.

"Ich habe mir eingebildet, wenn ich an Euch dachte, Ihr wäret ebenbürtig. Das Ausmaß, ja, das Ausmaß, Kind, wie ich das Ausmaß liebe! - Ihr habt eine Bitte an mich frei. Jetzt, in dieser Minute. Überlegt!"

Und sie, ohne eine Sekunde nachzudenken, sagte: "Gebt Baranoff frei."

Da fuhr er sie an: "Seid Ihr hier, um Politik zu treiben? Baranoffs Kopf muß fallen. Seinen Kopf habe ich, es gibt noch viele Köpfe, die ich nicht habe. Wie sie lächerlich auf den dürren Hälsen baumeln, da ist Senis, da ist Marco - für alle wackelnden Hälse steht das Gerüst - sie ein wenig zu stützen." Seine Augen flackerten ins Leere.

Ihr war, als vergäße er ihre Anwesenheit. Ihr Herz setzte aus: "Marco, Marco - der Herrscher weiß..'

"Ich kenne sie alle - diese schleichenden Schufte. Ich weide mich an ihrer Sicherheit. Baranoff, ja, den habe ich, und kein Gott kann ihn mir entreißen..auch Ihr nicht, schöne Freundin!", setzte er sarkastisch hinzu. "Und nun erlaubt..."

Wieder ganz gebändigt, näherte er sich ihr, bog ihren Kopf zurück und küßte sie auf den Mund. "So, damit ich Euch daran erinnere, daß Ihr Frau seid! Bleibt in Euerm Gebiete, Donna Irene. Das bitte ich Euch. Denn Ihr seid schön. Es wäre schade um Euch...!"

Und wieder küßte sie der Herrscher. "Eure Lippen sind kalt, Donna Irene. Macht, daß sie warm werden. In einem solch schönen Körper fließt Blut. Ohne Grund seid Ihr nicht so verführerisch."

Sie versuchte, sich zu entziehen. Er hielt sie eisern fest, und weil er stand, war er der Überlegene.

"Jetzt will ich Euch küssen, versteht Ihr. Jetzt will ich in Eurem Wehren spüren, daß Ihr Frau seid, Irene. Du wehrst Dich, aber Du gibst nach. Du bist eine Frau." Seine Hände fuhren über ihren Körper. "Eine Frau, Irene, ein Wesen mit Brüsten. Gib die Politik auf, Irene. Sie kleidet Dich nicht. General Baranoff ist gefallen. Du aber lebst", hier nahm sein Mund von dem ihren Besitz, und als er sie endlich freigab, sagte er, den angefangenen Satz beendigend: "mir zur Freude."

Sie sprang auf. "Nein", rief sie, "nein!"

"Kind", sagte er sanft, "Kind, warum schreist Du so? Wir wollen Deinen Wunsch aufsparen, auf später. Du könntest sonst doch ein wenig zu voreilig sein. Lassen wir Euch Zeit, Irene."

Er hakte sie unter und führte sie zu einem Sofa, das vor der einen Fensterwand stand. "Setzt Euch", sagte er.

Irene tat es mechanisch. Sie wußte, sie hatte einen großen Fehler begangen. Nein, sie hätte nicht für General Baranoff bitten dürfen. Sie hatte damit seinen Untergang nur beschleunigt. Vielleicht auch den von Marco... ach, Marco...

"Es ist schade, daß Ihr von Politik anfingt, Ich wollte einmal ganz woanders sein. Donna Irene, es ist schade. Habe ich Euch erschreckt?" Traurig, wie ein monotoner Singsang ging seine Stimme. "Ihr seid Schuld, Irene. Ich wollte vergessen, einmal vergessen. Nur dem Schönen hingegeben sein, mit Euch, Irene. Ihr zerrißt alles. Kaputt." Er pustete in die Luft. "So. Vergessen ist blauer Dunst. Man kann nicht vergessen. Überall sitzt es, Irene, da und da und da..." Seine Hand fuhr durch die Luft.

"Weißt Du, was Luft ist? Widerstand. Nichts als Widerstand." Irr blickten seine Augen, seine Hand umschloß ihre ineinandergekrallten Hände. "Schöne Hände hast Du", sagte er bewundernd und küßte sie - sie ließ es wortlos geschehen, "so schöne Hände, schöne Finger, schöne Nägel..." - alles küßte er beim Aufzählen. "Weißt Du, wie Du geworden wärest, wenn man schon als Kind geflüstert hätte: 'grausame Hände, grausame Finger, grausame Nägel'? Ha, ha, ha-"

Sein Lachen durchfuhr sie.

"Ich will Dir ein Geheimnis sagen: Ich bin nicht. Der da, der da steht, ist groß und sagt mir alles, was ich tun soll." Irenes erschreckter Blick folgte dem seinen und da sah sie etwas, lang und wesend und fremdartig -, "mein Gott, träume ich?" Sie drückte die Faust gegen ihre Lippen, auf denen noch seine Küsse brannten.

"Die Hand da soll weg", sagte er, "Ich will den schönen Mund sehen." Er stand auf, ging wieder hin und her. "Was ich da rede. Einem kleinen Mädchen vorerzähle. Manchesmal spreche ich stundenlang allein. Niemand hört mich. Wer zuhört, muß sterben!" Leise ging seine Stimme über sie hin. "Wir haben uns noch viel zu sagen, Donna Irene, im Reden, Küssen. Und Schweigen."

Irgendein Band um Irenes Herz schmolz. Sie sah ihn an. "Laß Deine Augen wieder gläsern sein. Nichts Weiches. Härte. Härte. Haß, aus Stahl gehämmert. Hingabe in Abwehr. Kind, sei mir ebenbürtig!"

Schweigen weste. Schweigen formte sich. Schweigen zerfloß. Da sagte sie verhalten: "Ich habe so viel Mitleid."

"Mit wem?" Hochaufgerichtet stand er.

Und sie mit einer zarten Gebärde: "Mit allem..."

"Glaubst Du, daß Gott Mitleid hatte, als er die Welt erschuf? Vernichte, hasse, ertränke Mitleid. Es macht schwach, es macht hilflos. Mit geballter Faust fordern, das ist es: Furcht erschlagen, und wenn man in einem Meer von Toten stünde." Seine Augen zerschnitten den Raum.

Die ihren folgten ihm - und da schrie sie auf "Da, da sitzt jemand. Er schaut Euch an. Er schaut mich an. Um seinen Hals ist ein Strick. Er schaut und schaut."

"Siehst Du ihn auch, meine Geistschwester, Wesen aus gleichem Blut, mir zugehörig?"

"Mein Fürst, ich fürchte mich, ich fürchte mich so."

"Freundin, wir sind nie allein! Siehst Du sie zum ersten Male? Ich sehe sie immer. Sie umwesen mich; sie belauern mich. Sie wollen stärker sein als ich. Noch bin ich ich. Sieh sie Dir an, die Schemen, die anklagen wollen, daß ihr Kopf fiel. Köpfe müssen rollen, um den Einen zu schonen. Der Kopf, der alles hält. Alles, Irene. Alles ist Bewegung. Vernichtung ist auch Bewegung. Sie wollen mein Hirn verirrlichten. Zur Strafe sende ich ihnen neue fallende Köpfe zu. Wer hat die Macht? Ich! Denn ich lebe!"

Er ließ sich neben Irene nieder und nahm ihren Kopf in seine Hände. Seine Finger versanken in ihrem Haar. Er zwang ihren Kopf in eine bestimmte Richtung, und sie sah in die Kuppel:

Da, da - und da! Überall sind sie", flüsterte sie. "Laßt mich gehen, mein Fürst. Ich kann hier nicht bleiben!" Sie brach in Schluchzen aus. "Diese Anklage, diese entsetzliche Anklage!" Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Wie aus weiter Ferne hörte sie seine Stimme: "Und wenn mein Kopf statt der ihren rollen würde, ich glaube, Ihr würdet dann auch weinen..." Der Usurpator trocknete ihre Tränen. "Der da sitzt, ist ganz ungefährlich, er sitzt immer da, seit, nun ja, seit damals. Aber der da steht, Irene, der ist gefährlich. Der ist ein Gegner, der ist Ich."

Irene blickte scheu in die flackernden Augen des Herrschers. War er wahnsinnig und seine Macht auch darin so groß, daß alles nur seine kranke Phantasie vorgaukelte?

"Blick nicht hin, Irene!" Immer drängender kam seine Stimme. "Ich bin stark, der Ich ist viel stärker. Der hat Macht. Irene, Irene, schöne Geistschwester, mein Geschöpf bist Du." Besitzergreifend legte er seinen Arm um sie. "Noch sollst Du leben!" Er küßte sie. "Schöner Körper im Raum, Körper, der nicht west." Und als sie, ihrer selbst nicht mächtig, aufsprang, sagte er, indem er ihre Wangen umschloß: "Du brauchst mich nicht lieben, schönes Gesicht, Du sollt mir gehorchen!"

In ihrem Innern formten sich die Worte: 'Marco, Marco', wie eine Beschwörung. E war ein Wider-Herzwingen-Wollen. Ihr Herz war ausgelöscht. Auch Marco hatte keine Melodie mehr darin. Er war wie Erinnerung, die man heraufholen muß, Anstrengung, sich selbst zu belügen. Sie suchte verzweifelt ihre Liebe zu Marco. Sie hatte keine Macht. Viel mehr davon hatte der Usurpator, der vor ihr stand. Eine herzbeklemmende Macht.

Fluchtbereit jagte ihre Stimme: "Erlaubt mir, daß ich gehe." Und ganz leise: "Ich möchte so gerne gehen."

Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck blickte er sie an. Dann begann er wieder seine Wanderung durch den Raum mit auf dem Rücken verschränkten Händen.

"Irene, Du bist voll von Hellgefühl. Weißt Du wirklich nicht, daß Du nie mehr wirst gehen dürfen? Zuviel haben wir uns gesagt. Zuviel hast Du hineingesehen."

Sie wuße sofort: Dieses ist unwiderruflich. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren, zu bitten, zu weinen. Sie stand da mit herunterhängenden Armen. Alles war wie geträumt. Sie antwortete nicht. Sie stand da und nahm diese Hinrichtung auf. Es war ihre Hinrichtung. Sie wußte es. Ein Laut kam aus ihrer Kehle wie ein Cello, das zerbricht. Dann faltete sie die Hände, ihr linke Schulter zuckte, und ganz kindlich fragte sie: "Was habt Ihr mit mir vor?"

Mit gierigen Augen hatte er alle Erschütterungen auf ihrem Gesicht mitgemacht. Ohne daß diese verschlingenden Augen sie verließen, sagte er: "Als Kind erlebte ich einmal eine Landschaft. Das war ebenso.- Schön bist Du!" Er ging zu seinem Schreibtischstuhl und setzte sich. Dann ließ er das abgeblendete Kuppellicht aufflammen, sie stand in Licht getaucht. "Nein, Irene. Du sollst nicht ins Dunkel. Du sollst leben - noch sollst Du leben. Hier bei mir. Sieh nicht so starr. Die Bläue Deiner Augen soll weiter leuchten. Aus diesen meine Räumen kommst Du nicht mehr heraus." Seine Hand zeigte auf die Tür hinter seinem Rücken. "Du bist meine Gefangene." Er stand auf. Trat zu ihr, nahm ihre kalten Hände. "Sie sollen warm werden. Deine armen erschrockenen Hände. Ich werde Deinem Blut gebieten, bis es kocht."

Ein Ruck ging durch ihren Körper. Er fing ihn auf. Er drückte sie an sich. Er tastete über die Seide ihres Kleides.

"Ihr werdet nie mein Geliebter sein", flüsterte sie.

"Das will ich auch nie, Irene!" Ganz selbstverständlich sprach er es. "Aber Du wirst meine Geliebte sein, das ist so...Wollen wir uns über Hingabe unterhalten, jetzt, in dieser Stunde? Ich gebe mich nie. Ich nehme nur." Von seinen Händen strömte Feuer, das in ihren Körper einschlug.

"Ich kann nicht, ich kann doch nicht!"

Da lächelte er, und dieses Lächeln löschte den Irrlichterglanz seiner Augen. "Komm, Irene", sagte er. Wieder ging diese Stimme wie ein beschwörender Singsang über ihr Herz. Er legte den Arm um sie und führte sie der Tür hinter seinem Schreibtischsessel zu, der Türe, die in seine eigenen Gemächer führte.

Da klopfte es dreimal, kurz und hart. Der Usurpator stockte, horchte, ließ Irene los. "Kind", sagte er, "etwas Wichtiges, sonst würde man mich nicht stören."

Wieder wurde geklopft. Dreimal, wie mit einem Hammer. "Irene, geh jetzt dort hinein, erwarte mich. Ich komme, sobald ich kann. Du wirst alles vorfinden, um die Zeit bequem zu überbrücken." Er öffnete die Türe, schob sie hinein, riß urplötzlich ihr Haar nach hinten, daß sie aufschrie, und küßte sie auf den Mund. Dann schloß er die Türe hinter ihr.

 

V.

Als der Herrscher mit lauter Stimme "Herein!" rief, saß er an seinem Schreibtisch. Das Licht der Kuppel umfloß ihn, sein Gesicht war konzentrierteste Erwartung. Zwischen seinen Händen hielt er einen Schreibstift. Die Flügeltüren öffneten sich, und über die Schwelle schritten Marco und Senis. Marco war aschfahl. Seine Züge gesammelt und kalt. Senis, der nicht mehr junge Senis, sehr vornehm, groß und überlegen, war der erste, der sich auf eine Seite vor den Schreibtisch stellte. Marco folgte. Er stand daneben, die Lippen schmal zusammengepreßt. Er war ganz Haltung, aber seine Augen loderten. 'Ein Schulbube neben seinem Vater', mußte der Herrscher unwillkürlich denken. Sie verneigten sich. Eine ungeduldige Bewegung des Herrschers.

Senis nahm das Wort: "Baranoff...", weiter kam er nicht.

"Was ist mit Baranoff?" schrie der Fürst.

"Baranoff ist geflohen!"

"Wann?"

"Vor zwei Stunden etwa. Wie er herausgekommen ist, wissen wir beide nicht. Eine Untersuchung hierüber ist im Gange. Was wir wissen, ist folgendes: Auf der Straße war ein Menschenauflauf. Ein Mann stand mitten darin und hielt revolutionäre Reden und beschimpfte in nicht zu wiederholenden Worten Eure Herrlichkeit. Die Stimmung verschärfte sich. Die Menge schrie, stimmte zu, schimpfte mit - die Situation wurde gefährlich. Da trat plötzlich ein Mensch dazwischen und gebot mit lauter Stimme Einhalt. Er forderte die Masse auf, den Mann festzunehmen, der Eure Herrlichkeit fortfuhr zu beleidigen. Der Mensch, der die Festnahme des Schimpfenden forderte, strahlte eine solche Größe aus, daß die Menge zuerst zögerte, dann ratlos wurde, schließlich umschlug. "Nehmt den Halunken fest!", raste sie. Es wurde ein wüster Auftritt. Der Mann, der noch immer versuchte, Stimmung gegen Eure Herrlichkeit zu machen, wehrte sich wie ein Tier. Als man ihn endlich band, behauptete er plötzlich, von Euch persönlich als Spitzel eingesetzt worden zu sein. Er zeigte einen Ausweis, der echt wirkte. Die Nummer 331 stand darauf. Von Eurer Hand, mein Fürst, unterschrieben. Die Menge wurde wieder unsicher. Aber der Mensch, der hinzugekommen war und wie ein Dompteur mit seinen Augen die Masse hielt, sagte: 'ich bin Baranoff. Der Mann ist Gefangener, auf meine Veranlassung.' Der aber tobte und schrie, man müsse das ganze Volk ermorden. 'Auf die Folter mit allen, so der Wille des Herrschers.' Baranoff war bei dem ganzen Auftritt dabei. Er soll mit verschränkten Armen dagestanden und zugesehen haben, wie man das Subjekt 331 mundtot machte. Dann soll er zum Volke gesagt haben: 'Ihr, Ihr Toren, geht nach Hause. Wenn jemand so laut wagt, auf den Herrscher zu schimpfen, wißt fortan, er ist ein Spitzel. Er will nur, daß Ihr mitschimpft, um Euch hinterher zu verraten und Euch und Eure Familien ins Verderben zu bringen. Toren, die Ihr seid, geht jetzt nach Hause. Und den da' - er zeigte auf den Gebundenen - 'liefert ihn ein. Sagt ausdrücklich, General Baranoff, Euer Baranoff, hätte ihn festnehmen lassen und sendet ihn seiner Herrlichkeit.'

Mit diesen Worten sei er verschwunden. Der Aufwiegler ist tatsächlich eingeliefert worden, gebunden und übel zugerichtet. Baranoff ist seit dieser Stunde spurlos verschwunden. Man hat fieberhaft gearbeitet, um seiner habhaft zu werden, ohne jeden Erfolg."

Der Fürst, der noch immer seinen Schreibstift in seinen Händen hielt, zerbrach diesen. Der Laut fiel in die Stille. Alle drei Männer schwiegen.

"Baranoff ist ein Gegner", sagte endlich der Herrscher, "ein nicht zu unterschätzender Gegner. Er hat Freunde, einflußreiche Freunde, sonst wäre seine Flucht nicht gelungen." Seine Augen blickten durchbohrend auf Marco und Senis. "Baranoff ist wichtig. Die Freunde von ihm sind ebenso wichtig. Schade um sie alle. Sie gefallen mir. Wenn sie auch meine Feinde sind." Wieder Pause. "Was den Geheimagenten 331 anbetrifft, so macht er seine Sache ungeschickt. Er ist zu hängen. - Nun aber wieder zu etwas anderem."

Er stand plötzlich auf und herrschte Marco an: "Wo ist Baranoff?" dann sagte er sehr leise:"Ihr seid mit ihm befreundet - gewesen, natürlich gewesen..." und durchschnitt damit jede Antwort. "jeder, der gefangen ist, hat keine Freunde mehr, ich weiß...", höhnte er. "Man muß ein wachsames Auge auf Euch haben. Verräterische Freunde."

"Mein Fürst!" schrie Marco auf.

Aber der grauhaarige Senis legte seine Hand beschwichtigend auf Marcos Arm. "Ihr tut uns Unrecht, wie Ihr Baranoff Unrecht tatet. Wir sind Freunde. Keine verräterischen Freunde."

Und er sah wie in einem Blitzlicht die Ereignisse der letzten Stunden, wie er und Marco mit anderen Gleichgesinnten Baranoff befreit hatten. Wie durch einen Säbelhieb die persönliche Wache hingestreckt worden war. Wie Baranoff, als wäre er nie ein Gefangener gewesen, in einen Radmantel gehüllt, aufrechten Ganges die geheime Pforte durchschritt, die ihm von damals, als er noch Freund des Herrschers, bekannt war. Wie er durch die Straßen ging, unauffällig, gefolgt von dem Auto Senis', wie dann der Auflauf auf der Straße brandete, der sich genauso zugetragen hatte, wie sie es dem Herrscher geschildert hatten, und wie sich Baranoff jetzt in Irenes Wohnung in vorübergehender Sicherheit befand, bis er fortmußte. Sie hatten nicht geplant, die Flucht Baranoffs sofort dem Usurpator zu melden. Aber man hatte vorzeitig die hingestreckte Wache und die Flucht Baranoffs bemerkt beim halbstündigen Rundgang. Und die Flucht war Senis und Marco gemeldet worden, denen dann nichts anderes übrig geblieben war, als die nach außen notwendigen Schritte zu tun. Baranoff, den Freund, würde vorläufig niemand finden. Er war in einem guten Versteck, denn niemand würde auf den Gedanken kommen, bei Irene Haussuchung zu halten. Dort war es, wo Marco erfahren hatte, daß Irene zum Herrscher befohlen worden war, dort fand er auch ihr zurückgelassenes Schreibblatt. Von dem Augenblick an war Marco wie ein gefährliches Tier. Senis hielt seine Hand noch immer auf dem Ärmel Marcos. Er sagte zweideutig: "Mein Fürst, Ihr unterschätzt Freunde!"

"Nein", sagte der Herrscher und ging zu dem Sofa, auf dem er mit Irene gesessen hatte. "Ich unterschätze Freunde nicht. Ich weiß, sie haben Ausflüchte. Sie sind mir treu - sie verraten - sie sind dem Volk treu - sie verraten - sie sind dem Land treu - sie verraten. Was ist ihnen ein Eid? Was ist ihnen ein Freund? Was ist ihnen eine Frau?" setzte er spielerisch hinzu und blickte höhnend auf Marco, der in diesem Augenblick den Pelzmantel Irenes entdeckt hatte.

Eine Blutwelle schoß Marco in sein aschfarbenes Gesicht. "Eine Frau, eine Frau..." stöhnte sein Herz. Seine Augen waren wie Klingen, als er ganz schlicht sagte, indem er auf den Pelzmantel zeigte: "Wo ist Donna Irene? Ich hätte ihr etwas zu sagen!" Senis erschrak. 'Marco, junger leidenschaftlicher Freund', dachte er, 'was tust Du? Unvorsichtiger. Du gefährdest unser aller Leben.' Seine Augen streiften eine Sekunde Marcos Gesicht. Dann blickte er unbeweglich geradeaus.

Der Usurpator lachte gellend auf, daß es widerhallte. "Ihr seid ein König der Narren, mein junger Freund", sagte er dann schneidend, und seine Hand fuhr in einem sinnlosen Bogen durch die Luft. "Verabredet Euch mit Euren kleinen Mädchen irgendwo, unter einer Uhr!", wieder hallte sein Lachen, "aber nicht hier bei Eurem Herrscher. Seid Ihr eigentlich bei Euch, Marco?" setzte er bedauernd hinzu. "Mir deucht, Ihr habt Fieber." Er schritt ein paar Mal hin und her und blieb unvermittelt dicht vor Marco stehen. "Ich bedauere Euch", sagte er dann leise, und der Kontrast der Stimme preßte Senis' Herz zusammen. "Soll ich Euch eine väterliche Lehre geben? Traut nicht Frauenwort. Es ist wandelbarer als der Mond!" Er blickte in die lichterhellte Kuppel. Dort oben weste es: die Toten, seine Toten, ein Heer, ihm untertan. Seine Augen irrlichterten. Er sah hinauf, legte die Hand wie spähend über die Augen. Nein, die beiden da vor ihm sahen nichts. Sie waren blind. Man müßte sie dem Heer da oben einverleiben, damit sie sehend würden. Morgen. Heute wollte er ihnen die Freiheit lassen.

Er rieb sich die Hände als frören sie, blickte wieder hinauf, blickte die Gestalt an, die sich vor ihm auftürmte. Und schrie plötzlich wie ein Tier: "Hindernisse, nichts als Hindernisse! Ihr abtrünnigen Freunde. Geht, geht endlich!" Seine Hand fuhr durch sein Haar. Es war wie Erwachen. Senis hatte verschlossenen Antlitzes diesen Ausbruch über sich ergehen lassen. Marco stand, und seine Augen flackerten in einem grausen Entsetzen. 'Irene, Irene, wo bist Du', stöhnte sein Herz.

Der Herrscher setzte sich. Seine grausame Hand streckte sich aus: "Ich möchte Euch noch einmal die Hand geben, Senis, mein falscher Freund, Marco, mein junger Feind. Morgen früh, Punkt neun, bringt Ihr mir Baranoff, gefesselt. Euer Kopf bürgt dafür. Ihr habt eine Nacht Zeit. Eine herrliche, freudenreiche Nacht. Geht endlich..Nein, bleibt. Ich muß Euch noch etwas sagen: Fragt nie mehr nach Donna Irene, Ihr verliert sonst noch Eure Zunge. Euretwegen schweigt!" flüsterte er.

Er klingelte. Flügeltüren öffneten sich. Senis ging voran, Marco taumelte hinter ihm her. Die Türe schloß sich.

Der Herrscher saß noch lange unbeweglich an seinem Schreibtisch und blickte in die Kuppel.

Inzwischen saß Irene in dem Zimmer des Herrschers und wartete. Sie war allein Sie war weltenfern allein wie noch nie in ihrem Leben. Nachdem der Herrscher die Tür hinter ihr geschlossen hatte, befand sie sich in einem kleinen weißen holzgetäfelten Gang. Eingelassene Spiegel hätten ihr ein blasses großäugiges Wesen mit roten Lippen und ringelnden Haaren gezeigt, fremdartig und süß, wenn sie hineingeschaut hätte. Aber sie schritt hindurch durch den weißen, mit weichen Teppichen belegten Gang, blicklos und verstört. Eine Tür, die der, in die sie der Usurpator hineingeschoben hatte, gegenüberlag, klinkte sie herunter, ohne daß diese aufging. Ein eisiges Entsetzen bemächtigte sich ihrer. Ganz grundlos, denn nach weniger als einer Minute öffnete ihr eine Ordonnanz die Türe, stand stramm und ließ sie eintreten.

"Ich soll den Herrscher hier erwarten", sagte sie. Die Ordonnanz schritt ihr voran durch viele Räume, die Irene nicht aufnahm, und machte in einem kleinen Herrenzimmer Halt. Schreibtisch, Bücher, Couch, Sessel, Blumen. Viele Teppiche, viele Fenster, die nun verhangen waren.

"Wartet hier, Donna Irene", sagte die Ordonnanz höflich. "Ich werde für Erfrischungen sorgen."

"Danke!" Ihre traurig lächelnden Augen sahen die Ordonannz an. "Ich möchte nichts."

Die Ordonnanz verbeugte sich und ging hinaus. Irene durchmaß mit nervösen Schritten den sechseckigen Raum. Hin und her ging sie, hin und her. Die Tür öffnete sich, und ein Teewagen wurde hereingerollt mit Erfrischungen.

"Danke", hörte Irene sich sagen, "Ich möchte auf den Herrscher warten."

"Donna Irene, Ihr tätet gut dran, Euch zu stärken. Der Herrscher speist immer allein, wie Euch bekannt sein dürfte." Die Ordonnanz verbeugte sich und ging aus dem Zimmer.

Irene goß sich eine Tasse Tee ein und trank gierig. Die Wärme tat ihr gut. Verschwommen erinnerte sie sich, daß der Herrscher niemals an einem Essen teilnahm. Es war richtig, sie hatte ihn noch nie essen sehen. Irene setzte sich. Sie fror, obwohl es sehr warm im Zimmer war. Marco, wo ist er? Wo ist Marco? Marco war gegenstandslos. So tief sie ihn in sich suchte, sie fand ihn nicht mehr. Sie dachte an den Herrscher und an seine Irrlichteraugen, die lockten. Sie wollte ihn hassen, mit den Besten des Landes hassen. Aber sie fand ihren Haß nicht mehr, ebensowenig wie ihre Liebe zu Marco.

Sie kam sich vor wie in einem Palast auf Meeresgrunde. Alle Gefühle waren fortgespült. Verzweifelt saß sie da, diesem Geschehen nicht gewachsen. Ihr Blick irrte an den Wänden. Lichtarme, sehr erlesene helle Tapete. Ein großes, einzelnes, schmalgerahmtes Bild unter Glas. Auf ihm stand in Rot und Gold: "Denn ich bin der Fürst der Welt." Orchideen verblühten in einer Vase. Sie verstand im Anschauen Marco, der ihr einmal Orchideen aus einer Vase gerissen und fortgeworfen hatte, wie sie unkeusch seien, sie und ihr Zimmer beleidigten. Unkeusch standen diese Orchideen im Zimmer des Herrschers und flimmerten im Licht. Und das Bild mit den barocken Buchstaben: "Denn ich bin der Fürst der Welt", verwirrte. Und seine Küsse verwirrten und seine Hände und seine monotone Stimme, die weh tat.

Ach, und die Toten, all die wesenden Toten. Sie fühlte etwas wie Mitleid mit dem Herrscher, der all dem Herumwesen der Toten standhalten oder untergehen mußte.

Wieder ging die Tür auf. Die Ordonnanz erschien: "Verzeiht, Donna Irene, Leibesvisitation. Habt Ihr Waffen, bei Euch? Ihr wißt, zu fragen ist meine Pflicht. Niemand darf ohne Untersuchung eintreten. Drinnen versäumte man es." Irenes Gesicht war wie mit Blut übergossen. Dann wurde sie weiß, und sie sagte klar und deutlich:"Nein, ich trage keine Waffe bei mir."

'Leider', dachten ihre Gedanken.

"Auch kein Gift, nichts." Sie lachte auf.

Die Ordonnanz sagte sehr leise. "Verzeiht!", er ließ eine weibliche ältliche Person herein.: "Tut, was Ihr müßt", sagte er und ging aus der Tür.

Irene ergab sich und ließ sich untersuchen. "Mein Pelzmantel ist drinnen beim Herrscher", sagte sie trotzig. "Dort mögt Ihr weitersuchen."

Die Frau sagte sonor: "Kein Befund", und ging hinaus.

'Ohne Teppich wären ihre Schritte sicher gemein', dachte Irene. Nein, sie hatte keine Waffe. Auch für sich selbst nicht.

Sie war allein. Sie war hilflos. In ihr war ein eisiger Zorn. Sie verachtete den Herrscher, der sie hier solchen Dingen aussetzte. Und doch wußte sie, daß es kein Hinaus für sie gab. Sie mußte standhalten. Aber auf ihre Weise. Sie ging zur Türe und sperrte den Riegel vor. 'Hier ist mein Reich', dachte sie voll Hohn. Sie fuhr durch ihr Haar, es knisterte. Sie fuhr über ihr Seidenkleid, es knisterte. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, und ihre tränenlosen Augen weinten.. Es verging eine ihr endlos scheinende Zeit. Ganz langsam schlug ihre Stimmung um. Sie hatte sich eingeschlossen, was konnte ihr geschehen? Und wenn auch. Was hat der Mensch zu verlieren? Doch immer nur sein Leben, dachte sie kühn.

Sie stand wieder auf und ging hin und her. Sie ging zum Teewagen und aß achtlos eine Kleinigkeit. Es schmeckte. Es kam ihr ins Bewußtsein, daß sie Hunger hatte. Sie setzte sich wieder, zog den Wagen zu sich her und aß mit jungem Appetit. Wein, der da stand, verschmähte sie. Aber Tee trank sie mehrere Tassen. Das tat ihr gut. Sie fing an, Einzelheiten des Zimmers bewußt zu sehen. Die schöne Form der Sessel. Den wundervollen Schwung des Mahagonischreibtisches. Sie bewunderte die Stoffe und Farben. Dabei hatte das Zimmer nichts Weichliches. Sie dachte, daß der Herrscher hier vielleicht oft saß. Sie dachte, daß dieser Raum vielleicht geschwängert war von den kranken, unheilvollen Gedankengängen des Usurpators. Und doch merkte man nichts davon. Das Licht warf sanfte Strahlen auf die Harmonie des Raumes. Irene ging zu den Büchern, die in Brusthöhe standen. Es war eine großangelegte geschichtliche Bibliothek, nichts, nach dem sie verlangte. Sie hätte gerne das schmale Gedichtbüchlein aus dem Vorzimmer des Herrschers da gehabt. Sie strich über ihre Augen, überlegend:

Musik tönt in die Lage der Taurigkeit...

Hieß es nicht so? Irene setzte sich wieder. Wie lange man nicht kam. Irgendwann würde ihr Hiersein ein Ende finden. Vorläufig war die Tür abgeschlossen. Sie war allein, Herr ihrer selbst in einem ihr zusagenden Zimmer. Wie ein befreiter Bube warf sie ihren Kopf nach hinten. Ihr Mund atmete. Marco liebte sie. Plötzlich durchströmte sie dieses Bewußtsein wieder beglückend. Senis hatte sie lieb. Baranoff hatte sie lieb - Baranoff, dem sie so gerne helfen wollte. Sie hatte es falsch angefangen. Aber in ihrem Herzen war Zuversicht: Es würde und mußte alles gut werden. Wie? Sie wußte es nicht. Sie kam sich plötzlich geborgen vor. Sie legte ihren Kopf nach hinten auf ein Kissen und schloß die Augen. Gut war es so. Ach, so gut. Ihr konnte nichts geschehen.

Da wurde die Klinke heruntergedrückt. Sie gab nicht nach. Die Stimme des Herrschers erklang: "Aufmachen, sofort aufmachen!"

Irene riß ihre Augen auf. Sie lauschte, antwortete nicht.

"Aufmachen!", ungeduldig klang seine Stimme.

Irene hörte ihre Blutbahn. Sie drückte einen Augenblick ihren Handrücken gegen ihren Mund. Dann stand sie auf und wich zurück bis zum Schreibtisch. Mit weitaufgerissenen Augen sah sie die Türe an, hinter der ihr unabwendbares Geschick Einlaß forderte.

"Nein", sagte sie, nicht laut, aber der Mann hinter der Tür hatte es doch gehört.

Einen Augenblick bieb es still, dann sagte er, und ihr schien es, als klänge seine Stimme belustigt: "Nein? Wirklich nein?" Er drückte noch einmal auf die nicht nachgebende Klinke. "Dann also: nein."

Die Tür stand wie vordem. Kein Wort, keine Bitte, kein Toben, kein Befehl. Irene stand noch immer in Abwehr und blickte die Türe an. Staunend, so einfach war es gewesen.

Da öffnete sich die Wand, an der das Bild: "Denn ich bin der Fürst der Welt" hing , und herein trat der Gefürchtete. Gar nicht unwillig. Eine Haarsträhne fiel auf seine Stirn, er blickte übermütig.

"Meinst Du nicht, daß ich mich in meinem Hause doch besser auskenne als Du...?" sagte er und zog die Widerstrebende an beiden Händen ins Zimmer. "Oh, Kind, Abwehr ist nichts anderes als mich mit Energien laden!" Er setzte sich. Sie stand und sah ihn feindselig an. Er beachtete das nicht.

"Donna Irene, wie habt Ihr Euch die Zeit vertrieben, was habt Ihr gemacht?"

"Herr", antwortete sie, und ihre Stimme grollte, "Ihr habt gesorgt, daß sie mir nicht lang vorkam, es gab Leibesvisitation."

Er blickte sie an. "So, da hat man recht getan."

"Mein Fürst", sagte sie und sah ihn mit ihren großen Augen an. "Füchtet Ihr so für Euer Leben, daß es niemandem vergönnt ist, bei Euch zu sein, ohne sich diesen Dingen aussetzen zu müssen? Warum wird jeder auf Waffen und Gift untersucht? Habt Ihr so wenig Glauben an Eure wahrhafte Macht?"

Er antwortete nicht, sah sie nur an.

Und sie: "Warum tut Ihr das, mein Fürst? Doch nicht aus Feigheit?" Sie forderte ihn heraus, wie er so gelassen da saß und sie nur immerzu ansah.

Er fuhr auch jetzt nicht auf. Er sagte nur mit einer abschließenden Handbewegung: "Ich tue, schöne Freundin, das, was ich für gut befinde."

Sie schwieg. Es war ein Abgrund zwischen ihnen, ausgefüllt mit Feindschaft. Er fühlte, wie meilenfern sie ihm entglitten war. Er stand auf, trat vor sie hin und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Ich tue etwas", sagte er leise, "was mir nicht liegt. Ich gebe Dir Antwort. Warum ich es tue...? Nehmen wir an, daß ich Dich ernstnehme. Man nimmt für gewöhnlich keine Frau ernst. Man spielt mit ihr. Das ist viel einfacher. Aber nehmen wir an, daß es eine Laune von mir ist. - Ich will Dich ernstnehmen", setzte er eindringlich hinzu. Er setzte sich wieder und zog sie an ihren vor Erregung kalten Händen zu sich hin. So sprach er, indem er ihre Hände hielt: "Weißt Du, wer ich bin? Nein, Du weißt es nicht."

Geheimnisvoll flüsterte er: "Ich halte mich am Rande der Götter. Selbst ein Mensch, bin ich den Göttern zugesellt. Das Leben meines Seins ist mehr wert als das all der Lebendigen um mich herum. Die Götter sagen mir, wie ich mein Leben schützen muß."

Irene erstarrte: Gewiß, er war wahnsinnig. Scheu blickte sie in seine fanatischen Augen. Er aber fuhr fort: "Schützen vor den Verrätern. Allüberall sind Verräter. Sie kommen aus dem Dunkel. Ich aber muß leben, ich werde leben. Trotz ihrer alle."

Sie riß ihre Hände los. "Sagen das die Götter?"

Schneidend klang ihre Simme. "Vielleicht sagen es nur Dämonen, Eure Dämonen, mein Fürst."

"Dann bin ich froh, daß ich meine Dämonen als leibhafte Götter um mich sehe!" Er stand auf. Blickte in die kristallhelle Bläue ihrer Augen. "Auch Du kannst mich verraten." Er riß ihr Haar nach hinten und blickte in ihr Gesicht wie in ein aufgeschlagenes Buch. "Schöne Maske, hinter der Maß und Liebe wohnen."

Sie schloß ihre Augen. Sie wollte seinen aussaugenden Blicken entgehen. "Wenn man überall Verräter sieht, zieht man sie herbei", murmelte sie.

Er lachte einmal kurz auf. "Wie weiblich Du die Welt siehst, ich ziehe nichts herbei. Ich durchschaue." Er ließ sie los. Ging im Zimmer auf und ab.

Sie setzte sich und verbarg ihr Gesicht hinter ihrer Hand.

"Weißt Du, daß ich mich gefreut habe, bald wieder bei Dir zu sein?" Leicht und unbeschwert sah er sie an, wie ausgewechselt.

Sie ließ ihre Hand sinken. "Das habe ich gemerkt, mein Fürst", entgegnete sie spöttisch. "Darum laßt Ihr mich hier allein speisen."

Er lachte, um gleich darauf wieder ernst zu werden. "Ja, siehst Du, das ist eine meiner Eigenheiten. Ich esse und schlafe nur allein. Es ist etwas Klägliches um die Menschheit. Sie umkleidet ihre Bedürfnisse. Viele Leute sitzen beieinander, essen, trinken, schwelgen, unterhalten sich dabei, lernen sich vielleicht lieben, das alles nennt man Geselligkeit. Man soll alles, was man tut, ehrlich tun. Ich esse, wenn ich Hunger habe. Vielleicht mit gierigem Gesicht, ich weiß es nicht. Ich sehe mich nicht, ein anderer mich auch nicht."

Er stand vor ihr: "Auch Du wirst mich nicht essen sehen", sagte er und strich ihr flüchtig über das Haar."Auch Du wirst mich nicht schlafen sehen. Das gelingt nur den Göttern, oder, wenn Du so willst, den Dämonen."

Er ging wieder auf und ab, blieb stehen, nahm sie mit den Augen auf. "Dein schönes Gesicht aber, das werde ich schlafend sehen."

"Das werdet Ihr nicht!", stieß sie mit einer Energie heraus, die ihn erstaunte. "Warum mißachtet Ihr mich so, daß Ihr das, was Ihr für Euch ablehnt, für mich als Voraussetzung nehmt?" Sie stand erregt auf, ging einen Schritt auf ihn zu. "Ich habe Angst vor Euch, Herr. Ja, Angst. Ich bitte Euch inständig, laßt mich gehen."

"Wißt Ihr nicht, Irene, daß es endgültig war? Ich werde Euch nie mehr gehen lassen. Ihr seid meine Gefangene. Schaut nicht so entsetzt drein, Irene. Ich genieße zwar Deine Ablehnung, aber laßt sie nicht zu lange dauern." Sie wich vor ihm zurück. Er folgte. Als sie die Wand erreicht hatte, sagte er ungeduldig: "Gib nach, Irene. Ich folge Dir sonst durch die Wände. Du weißt, ich kann sie öffnen!" Sie wurde immer blässer unter seinen Worten. Er trat ganz nah auf sie zu, so daß sein Körper den ihren fast deckte. So, Gesicht an Gesicht, sahen sie sich an. Dann, ohne sie mit seinen Händen zu berühren, küßte er sie. Wieder fühlte sie mit eisigem Entsetzen, wie dieser Kuß sie in seinen Bann zog. Sie hob abwehrend ihre Hände, die linke Schulter zuckte.

"Wenn ein Sturm daherbraust, nimmst Du ihn hin. Warum nicht auch so, wenn Dein Herrscher den Elementen gebietet? Sträube Dich nicht länger, Irene. Du wirst mich ja doch am Ende lieben müssen." Seine grausamen Hände, die langen Finger griffen sie. Sie waren kühl und brannten. Irenes ganzer Körper brannte.

Noch einmal suchte sie sich der Betörung, der sie sich schämte, zu entziehen. "Mein Fürst", gedrängt jagte ihre Stimme: "Ich lebe nicht erst seit heute. Ich liebe einen Mann!"

"Ich weiß, Irene, Du liebst Marco", seine Hände fuhren über ihre Seide. "Ich weiß es. Es ist so unwichtig zwischen uns. Übrigens, ein netter Junge für eine Frau. Und doch auch ein Verräter, Irene. Alle sind Verräter, nur nicht mehr lange!" Irene hörte es. Sie schwieg. Es war ein entsetztes Schweigen.

Ganz sanft sagte er: "Keine Furcht haben, Irene, ebenbürtig sein." Er hob sie auf, drückte auf eine Scheibe in der Wand, ließ diese auseinandergleiten und trug sie ins Nebenzimmer. Seine eine Hand drückte ihren Kopf an sich. "Irene", flüsterte er. Er legte sie auf ein breites Lager und setzte sich zu ihr. Sie lag mit geschlossenen Augen. Er sah auf sie nieder. Sein Schweigen tropfte liebend auf ihr Herz, daß es sich öffne.

Irene aber dachte: 'Was hat er gesagt - auch ein Verräter- nicht mehr lange?' Eine wahnsinnige Angst um Marco preßte ihr Herz. Sie öffnete die Augen voll von Qual. Sie sah des Herrschers unentwegten Blick. Es war eine große Stille in dem Raum. Sie sprach nicht. Er sprach nicht. Sie sah ihre schmalen Hände an. In ihr war ein Wollen, das sich durchrang.

"Mein Fürst, ich habe noch eine Bitte frei an Euch."

"Nein, Irene", unendlich müde klang seine Antwort, Wir wollen in dieser Stunde keinen Handel treiben. Ich weiß, Du willst für einen Menschen bitten, es ist nicht an der Zeit zu bitten. Es ist an der Zeit zu gewähren." Er beugte sich zu ihr.

Sie ergriff eine Hand und strich ohne Denken über sie hin, hin und her. Ihre Augen sahen seine liebenden Augen. Sie umfaßten weiterirrend den Raum, der sie aufnahm. Sie war teilhaftig im Mitschwingen der Atmosphäre, die so wahrhaftig in sie eindrang.

Er spürte ihre sprechenden Hände. "Schön sind Frauenhände." Er küßte ihre Finger. "Schön ist das, Irene! Vielleicht liebe ich Dich."

Ganz monoton glitt seine Stimme an ihr Ohr. "Schön bist Du, Irene. Dich festhalten wäre schön, es ist mir nicht vergönnt." Er küßte sie. Nach einer Weile sagte er: "Du sollst nichts von mir wollen, nichts erbitten, gar nichts. Einmal mit einem Menschen zusammensein, der nicht berechnet. Alle wollen gute Schachspieler sein, wenn sie bei mir sind. Ich werfe aber ihre Figuren um!" Er lachte grell.

Ein Zittern rann durch ihren Körper.

Er sagte durch Minuten nichts. Plötzlich umschlossen seine Hände ihr Gesicht, herrisch und zärtlich. "Du mit Deinen eigenen Augen, bei denen ich stets versuchte, mich umzudrehen, wenn ich sie bei der Parade auf meinem Rücken spürte. Irene, mein Geschöpf in Furcht und Abwehr, in Angezogensein, in Haß und Liebe: ergibt Dich!"

Nach langer Zeit fuhr er fort: "Heute abend will ich nur wissen, Du bist mein, Irene!" Er deckte mit seiner zweiten Hand ihre streichelnde Hand zu. "Siehst Du", sagte er leise: "Deine Hand ist nicht mehr da, aufgenommen vor mir. Du bist nicht mehr, aber ich bin."

Er küßte sie. Sie ließ es geschehen, daß er sie in seine Arme zog. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Er spürte jede Bewegung ihres Körpers. Er schwieg. Nur seine Liebkosungen durchbrachen die Stille. Mit seinen Augen verfolgte er ihre Erregungen. Sie war müde. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Sie ergab sich ohne Denken. Es war, als lullten seine Zärtlichkeiten sie ein. Sie sah sich selbst körperhaft in seinen Armen liegen. Sie mußte alles hinnehmen wie in einem Traum. Genauso monoton wie seine Stimme gingen seine Hände über sie hin. Aber in dem Gleichmaß lag ein gefährliches Aufwühlen. Seine Augen ließen sie nicht los. Sie spürte auch diese als Streicheln. Sie selbst hatte die Augen geschlossen. Alles war unwirklich und fern und doch greifbar nah.

"Sieh mich an!", forderte er.

Sie schlug sehr langsam die Augen auf, so, als koste es ihr Mühe. Er bog sie zum Lager zurück, und seine Hand strich über ihre Stirne. "Ich will Dich durchsehen." Er blickte sie an mit dem magischen Willen, der aus seinen Augen drang. Immer wieder. Sie lag diesen Augen preisgegeben.

"Ich tue Dir nichts, was Du nicht von Dir aus willst", sagte er. Wieder strich er über ihre Stirn, sah sie an, immer an, immer nur an. Dann fragte er leise: "Bist Du mein?"

Ein kleines, sehr fragendes Lächeln zuckte um ihren Mund. Ihr Körper lag unbeweglich. Sie sah ihn verschleiert an, dann senkten sich ihre Lider. Seine Augen aber sogen sie ein, es war in ihnen etwas von Frohlocken. Mit einer herrischen Gebärde zerriß er ihr Kleid von oben nach unten, mitten durch, und sie versank in die Glut seiner Küsse.

Es war eine eigene Liebesnacht, die Irene durchlebte. Er ließ ihr keine Atempause. Es war wie ein geheimer Kampf in einem aufgewühlten Meer.

Nichts ersparte er ihr. Er forderte unerhörte Preisgabe. Er nahm und nahm, er sog sie ganz in sich ein, er war herrisch, grausam, wild und weich, aber immer voll von Liebe. Irene ließ alles mit sich geschehen. In ihr war ein großes Staunen, ihre feuchten Augen, wie hypnotisch von den seinen festgehalten, wehrten sich nicht mehr. Sie spürte in einer Art aufrührerischen Seligkeit, daß sie genommen wurde, wie sie genommen wurde. Ihre atemlose Hingabe war von einem selbstzerstörerischen Sichverschwenden. Einmal schlang sie ihre Arme selbstvergessen um seinen Hals, er entzog sich ihr. Er spürte ihr nach bis in die verhaltensten Schlingungen ihres Seins, er aber blieb unbeweglich, immer ihr Herr, der zusah. Aber seine fanatischen Augen, sein Mund, seine Hände, alles war ein Brand der Liebe. Und Irene versank ermattet in einem brausenden roten Meer, in das sie hineinfiel, schnell und immer schneller

Dann wußte sie nichts mehr.

 

VI.

In der Nacht erwachte Irene. Sie stieg aus dem Schlaf heraus wie aus einem tiefen Wasser. Ihre nackten Arme umschlangen ein Kissen, ihr Körper schmiegte sich an andere Kissen, die der Wand entlang lagen, so als wäre es ihr Geliebter. Sie sah um sich. Je mehr die Erinnerung kam, desto unruhiger wurde sie. Eine elektrische Kerze, die auf einem niedrigen Tisch neben ihrem Lager stand, erhellte kaum den Raum. Ihre Hand fuhr über die Seide der Decke, mit der sie zugedeckt war. 'Wo ist er?', dachte sie, 'mein Gott, wo ist er?' Sie schrak auf, setzte sich. Sie fuhr über ihre Augen, in denen diese ganze lange Nacht lebte. Sie war traumbefangen. Wie war es doch? Wo war sie, und wie war sie hierhergekommen? Alles stieg auf: Schrecknis und Seligkeit der Nacht. Bestürzend sah sie im matten Licht ihr Lager. Aber wo war er? Sie wollte nicht allein sein.

Ihre Augen sehnten sich, seine Züge zu durchforschen. Sie wollte sein Nachtgesicht sehen. Sie wollte ihm flüsternd sagen vom Wandel ihrer Gefühlswelt. 'Freund, herrischer Freund, wo bist Du? Warum läßt Du mich allein?' Ihr Körper lag wie angeschmiedet in seiner erfüllten Müdigkeit. Ihre Augen durchirrten den Raum Irgendwo lag ihr Pelzmantel hingeworfen über einen Stuhl, sicher hatte er ihn abends mitgebracht. Er aber war fort. 'Wer bin ich?', dachte sie, 'kann Haß so wie Schnee zerschmelzen? Aber ich sah ihn falsch. Er ist maßlos, ja! Die Maßlosigkeit entspringt seiner Größe. Und er war vereist, bis er mich nahm. Niemand hatte ihn bis dahin lieb. Man kann Menschen zum Guten hinlieben, das hatte er entbehrt. Immer und immer nur hatte man ihn zum Schlechten hingehaßt.' Eine Woge von Zärtlichkeit strömte durch ihr Herz. In ihren Augen war ein Leuchten. Sie wollte sich zu ihm bekennen. Sie wollte mutig seine Geliebte sein, sie wollte alle Verachtung in Marcos Augen ertragen - Marco. Sie schloß die Augen, und nun war nur der Usurpator noch da, der sie streng und voll von seiner Liebe in den Armen hielt. Irene lächelte diesem Bilde zu. Das Lächeln blühte auf, es kam aus einem glücklichen Herzen. 'Ich habe bisher nicht gewußt, was Liebe ist', dachte sie.

Und so , in seligem Eingesponnensein, lag Irene wohl eine Stunde und übergoldete den Herrscher. Sie wandelte alles im Strom ihrer Liebe. Nie hatte er etwas Böses getan. Es war nur Verzweiflung, weil er niemanden hatte, der für ihn da war, der sich ehrlich zu ihm bekannte. Schaudernd dachte sie an sein Wissen von den Verrätern. Ach, die sich einbildeten, ihr Land vom Herrscher bereinigen zu müssen, die sahen ihn falsch, auch Baranoff, der Freund. Und doch würde sie ihn befreien, denn der Herrscher liebte sie, und sie würde für ihn bitten. Und dann würde sie ihn überzeugen, wer dieser Usurpator in Wirklichkeit war. Alle wollte sie überzeugen. So lag Irene, umringt vom Strom ihrer Liebe. Ihr Herz pochte. Hier allein sein, sie ertrug es nicht. Sicher war er gegangen, um sie in ihrer Müdigkeit zu schonen. Ach, sie wollte ja nur mit ihm müde sein. Sie wollte bei ihm sein. Sie wollte seinen Schlaf behüten. Er sollte dieses zum ersten Male kennenlernen. Ihr Herz rauschte in Zärtlichkeit. Immer mehr verdichtete sich ihr Traum. Und unter seinem Zwang stand sie auf wie eine Nachtwandlerin. Sie sah an sich herunter, auf ihre nackten Füße, und lächelte. Alles war selbstverständlich: daß sie hier war, und daß sie so jetzt hier war. Im Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit wollte sie zu ihm. Vielleicht war alles wie im Märchen, vielleicht wartete er auf sie. Vielleicht war er nur fortgegangen, um sie zu prüfen, ob ihre Liebeskraft groß genug war, ihn zu finden. Sie zog ihren Pelzmantel über, und so, wie sie war, im Liebesring ihrer Verzauberung, ging sie, um zu ihm zu gelangen.

Irene öffnete den Ausgang, der der Wandtür gegenüberlag, durch die der Herrscher sie getragen hatte. Sie betrat ein Badezimmer, das hell erleuchtet war. Sie ging mi ihren nackten Füßen über die Fliesen. Ihr Bild wurde ihr von allen Seiten zurückgeworfen.

Im Vorbeigehen drehte sie den Wasserhahn eines Handbeckens auf und kühlte Gesicht und Hände. 'nachtgekühlt will ich zu ihm kommen', dachte sie. Ihre Hand griff in die Tasche ihres Pelzmantels. Sie holte ihren kleinen Kamm heraus und ordnete die verschlafenen Haare. Sie lebten auf und wehten um ihren Kopf, der geheimisvoll aus dem Dunkel ihres Mantels ragte. Ihre Augen träumten aus diesem entrückten Antlitz. Und so, halb träumend, halb übermütig in einem eingebildeten Glücke, entdeckte sie einen kleinen Sicherheitsschlüssel, der in den Wandfliesen steckte der Türe, durch die sie hereingekommen war, gegenüber. Sie drehte ihn spielerisch behutsam, die Wandtüre gab nach und sie betrat das Zimmer, das sie suchte.

Der Herrscher lag in einem breiten Bett, das nach unten abgerundet war. Die Rückwand verlängerte sich hinauf bis zur Decke und ging im Winkel zurück, so daß wie in einem Himmel ein Beleuchtungskörper eingebaut war, von matter Seide überspannt. Dieses gedämpfte Licht floß durch den kleinen Raum, in dem nichts war als eben dieses Bett, rechts und links davon ein Nachttisch, eine kleine Kommode, zwei Stühle und ein Sessel. Die ganze Wand gegenüber des Eingangs, durch den sie getreten war, wurde gebildet durch große, bis auf den Boden niedergehende Fenster, die jetzt verhangen waren. Irene stand angewurzelt und sah auf den schlafenden Herrscher, sah seine Hände auf der Seide der Decke übereinandergelegt. Nichts regte sich. Der Herrscher lag wie entseelt. Und je mehr Irene hinsah, je mehr war sie überzeugt, daß der Herrscher nicht allein im Zimmer war. Es war ihr, als läge über dem Herrscher noch einmal der Herrscher, immer wieder noch einmal, sich verengend, bis diese vielen Herrschergestalten in der Decke verschwanden. Einer über dem anderen, alle bewegungslos und mit entseeltem Antlitz und ruhenden Händen auf seidener Decke. Irene fühlte keine Furcht. Ihr war, als hätte sie gerade dieses erwartet. Es war ihr, als hätte sie das alles schon einmal erlebt, irgendwann in einer sagenhaften Vorzeit. 'Du!', dachte sie, 'Du! Wer bist Du, der Oberste, der Unterste, wer bist Du?' Die schlafenden Oberen lagen gleichsam in der Luft. Sie verengten sich pyramidisch nach oben. Irenes Augen füllten sich mit Tränen. 'Dein Nachtgesicht...', dachte sie ergriffen. 'Fern bist Du, unnahbar fern. Nähe, geliebte ersehnte Nähe.' Sie stand ehrfürchtig, fremd im fremden Raum. Aber die unsägliche Stille bedrängte sie. Sie trat einen Schritt vor. Da war es Irene, als hielte sie jemand auf, weiterzugehen. Aber sie schüttelte dieses Gefühl wie eine lästige Hand ab. Sie war so von Sehnsucht getrieben hergekommen, bei ihm zu sein, seine aus dem Schlaf kommenden Augen auf sich gerichtet zu fühlen. Ihre Hände tasteten nach vorn, sie stand voller Liebe und doch voll von einer unerklärlichen Bangigkeit direkt am Lager des Herrschers. Die Teppiche erstickten jeden Laut. Ihre verwunderten Augen sahen den Herrscher, die vielen Herrscher übereinanderliegen, ihre zögernde Hand legte sich auf die eine Hand des zweiten Herrschers, der über dem wirklichen lag, fuhr durch die Luft und fiel auf die ruhende Hand des Herrschers, der steinern und entseelt auf seinem von mattem Licht umflossenen Bette ruhte.

Des Herrschers Hand zuckte, fuhr hoch, die Finger in der Luft steil aufgerichtet, so, als wollten sie das Herkommen eines Sturmes erspüren. Dann fiel die Hand schwer und als sei sie ein Gegenstand auf diese andere, noch ruhende Hand, der Körper unter der Decke zuckte, sein Mund schrie mit einem unheimlichen Laut.

Ruckartig setzte er sich, schlug wilde, fernherkommende Augen auf, blickte um sich. Seine Augen fielen auf Irene. Er sah die angelehnte Türe, die ins Badezimmer führte, eine maßlose Wut entstellte seine Züge:

"Was tut Ihr hier?" schrie er sie an.

Und als sie nicht gleich antwortete: "Ich habe gefragt. Antwortet!"

Irenes liebende Seele wurde aus einem blühenden Garten vertrieben. Überglüht sah sie ihn an, ihr Mund formte die Worte: "Ich wollte..."

Der Herrscher herrschte sie an: "Was wolltet Ihr?"

Und ganz leise, wie eine zerbrochene Saite, sagte sie: "Dich sehen."

Er lachte häßlich. "Ach, die große Sensucht. Geht sofort dahin wo Ihr herkamt. Wie seid Ihr denn überhaupt hereingekommen?"

Mechanisch, mit herunterhängenden Armen antwortete sie: "Der Schlüssel steckte."

"Ich vergaß, ihn abzuziehen...", murmelte er. "Ich muß sagen, Donna Irene, ich hielt Euch für besser erzogen, als mir nachzuspüren. Um diese Zeit bin ich in anderen Reichen beschäftigt, aber warum sage ich das Euch."

Sie las in seinen Augen Verachtung.

"Ich habe jetzt keine Zeit, mich mit lüsternen kleinen Mädchen abzugeben."

Irene zuckte auf. Ihre Hände fuhren über ihren Pelzmantel und zogen ihn ganz eng um sich. Und so, ganz weiß im Gesicht, wandte sie sich ohne ein Wort, um das Zimmer zu verlassen. Ihre nackten Füße gingen wie auf Scherben.

Der Usurpator verwandelte sich. Sein Blick nahm das auf. Seine Augen durchforschten den Grad ihrer Pein. Mit Spannung sah er ihren Schritten zu. Gerade, als sie die Türe erreichte und sie öffnen wollte, rief er sie an: "Irene!"

Sie stand sofort. Wandte sich um, sah ihn mit ihren ausgelöschten Augen an, in denen auch jetzt noch irgendein Lächeln war, ein trauriges Lächeln, das fragte. So stand sie unschlüssig und gab sich seinem Blick.

Und diese Sekunde entschied alles. Denn der Herrscher, den dieses unbestimmte Lächeln reizte, sagte, indem er im Sprechen jedes Wort auskostete, ganz dessen bewußt, was er ihr antat, aber er konnte nichts zurückhalten, die Dämonen der Stunde ließen es nicht zu:

"Irene", sagt er, und seine Augen blickten wie im Liebeswahnsinn sie an, "Irene, wird Dein Geschlecht so umtrieben? Hat Dich diese Nacht nicht ruhig gemacht? Soll ich Dich meinen Soldaten schenken, damit Du endlich zur Ruhe kommst?"

Irene fuhr herum, ihre Hand preßte sie auf ihren Mund, wie um einen Schrei zu unterdrücken. Dann wuchs ihre Gestalt, das Kristall ihrer Augen blickte wie zwei Messer, diese Messer jagten durch den Raum. Und da sahen sie: Auf seinem Nachttisch, auf einem Buch, lag ein Revolver. Sie sah ihn, und schon hatte sie ihn gefaßt, sah stolz und versteint ihn an und schoß. Die Kugel ging daneben.

Er sprang aus seinem Lager. "Irene!", schrie er, "Irene, Du bist wahnsinnig, Irene!"

Sie hörte nicht auf ihn. Wieder schoß sie kalt und beherrscht. Er taumelte ein paar Schritte auf sie zu. Ein mönchsartiges Gewand umfloß ihn bis zum Boden.

"Irene!" Seine Augen, von denen nun alle Dämonen den Vorhang fortgezogen hatten, blickten sie klar und voll Liebe an. "Vergib mir, Irene", dann brach er zusammen.

Sie flog auf ihn zu, kniete bei ihm. Diese Stimme, sein "Vergib mir" hatten sie erreicht. Sein Hemd rötete sich. Seine Hände wurden unruhig. Er blickte auf sie, seine Hand bemühte sich, ihre Hand zu fassen. Seine Augen staunten sie an ohne Anklage, einmal formten seine Lippen ein "Du", dann sah er hinauf in die Luft, und ihr war, als erteile er Befehle, wieder kam sein Auge leidend zu ihr zurück, dann wieder blickte er hinauf in irgendeine Ferne, die sich wohl ins Endlose dehnte. Sie folgte nicht seinem Blick, sie sah nur ihn. 'Das hier ist endgültig', dachte sie, und das Wort 'endgültig' blieb in ihr haften. Sie fühlte ihr Schicksal abtropfen, als goldener Regen vor ihren Augen, schnell, immer schneller und hinter dem tropfenden Regen lag ihr Herrscher und starb. Sein Körper streckte sich. Es war vorbei. Sie aber, mit einer unendlich zarten Bewegung, deckte eine Decke über ihn. Dann hielt sie mit dem Toten Zwiesprache. Manchesmal strich sie über seine langsam kühl werdenden Hände. 'In die Totenwelt habe ich Dich gebracht, Geliebter', dachte ihr Herz. 'Und das nennt man 'umgebracht'. Ich habe einen Menschen umgebracht, den Menschen, den ich liebe...'

Sein Antlitz lag auf ihren Knien. Sie blickte in dieses Antlitz, das nun so still geworden war. 'Das Ausmaß, Kind', hörte sie ihn sagen. Und dies: 'sei mir ebenbürtig!' Sie streichelte seine Hände, es war ihr, als stünde die Zeit. 'Grausame Hände, grausame Finger, grausame Nägel' hörte sie ihn wieder sagen. "Nein, nein, nein", flüsterte sie und küßte diese Hände, die jetzt so wehrlos da lagen. So kauerte Irene, und sie wußte nicht, waren es Minuten, waren es Stunden.

 

VII.

Ein eherner Hammer schlug dreimal gegen die Türe. Irene antwortete nicht. Sie ließ es hämmern, in die Totenstille hinein. Einen Augenblick hatte sie gemeint, es wären Glocken. Es hätte sie nicht erstaunt, hätten sie geläutet irgendwoher aus der Sphärenwelt.

Der Hammer schlug wieder dreimal gegen die Türe, an der Klinke wurde gerüttelt. Eine männliche Stimme rief: "Aufmachen! Ordonnanz dreiundvierzig. Mein Fürst. Aufmachen!"

Irene hörte es. 'jetzt kommt das Gericht', dachte sie. 'Gottlob, jetzt kommt es. Ich habe einen Menschen umgebracht. Ich habe meinen Herrscher umgebracht. Ich, ich allein. Warum ich es tat? Irgendetwas tat sehr weh. Er sagte etwas. Nie mehr daran denken. Nichts beschönigen. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe ihn umgebracht.'

Sie schloß des Herrschers Augen, die sie die ganze Zeit ansahen. Der Hammer gegen die Türe schlug weiter. Irene stand vorsichtig auf. Sie zog ihren Mantel um sich und ging öffnen. Im Spalt der Türe stand sie mit ihren nackten Füßen, der Ordonnanz, die sie zum Herrscher geleitet hatte, gegenüber. Der breite Korridor war voll von Bewaffneten.

"Kommt herein!" sagte sie zu der bestürzten Ordonnanz. "Kommt herein."

Er folgte unschlüssig. "Der Herrscher..." stotterte er.

"Eben, der Herrscher", antwortete sie zwingend. Kommt herein und schließt die Tür. Was ich Euch zu sagen habe, ist nur für Euch und nicht für die da draußen."

Er folgte ihr über die Schwelle. Sie schloß ruckartig die Türe. Sie stand ihm gegenüber, steif wie eine Kerze. "Ihr habt schießen hören", sagte sie. "Ihr habt recht gehört: Ich habe ihn erschossen!"

Die Ordonnanz folgte ihren Augen, sah den hingestreckten Herrscher, sah seine geschlossenen Augen, sah den weggeworfenen Revolver auf dem Boden liegen. Er sagte nichts. Er war jung. Er fühlte sich dieser Stunde nicht gewachsen. Er blickte auf die blasse Frau, die da so einsam und königlich vor ihm stand. Er sah in ihr fast weißes Gesicht und auf ihre nackten Füße. 'Hier hat sich ein Drama abgespielt', dachte er, 'Donna Irene, arme Donna Irene!'

"Tut Eures Amtes", mahnte sie ihn. "Ihr benachrichtigt sofort Senis und Marco. Ich bin Eure Gefangene. Aber...", und hier wurde ihre Stimme beschwörend, "Ihr laßt mich hier bei dem Fürsten, tut sonst, was Ihr müßt!"

Und sie entfernte sich von ihm und kauerte wieder neben dem Herrscher, abgeschlossen von der Außenwelt, nur hellhörig auf die Stimmen zwischen ihr und ihm.

Die Ordonannz riß sich zusammen. "Donna Irene, ich lasse alle Türen bewachen. Ihr bleibt hier, bis Senis oder Marco Weiteres beschließen." Er nahm den Revolver vom Boden auf und wollte das Zimmer verlassen.

Da rief sie ihn an: "Wißt Ihr nicht, daß Ihr vor Eurem Herrscher steht? Habt Ihr so wenig Gefühl zu diesem Euren Herrscher, daß Ihr den Totengruß vergeßt? Seid ehrfürchtig und betet!"

Seltsam klang ihre Weisung. Der Ordonnanz fröstelte. Er stand und sah auf den toten Herrscher, vor dem ihm graute. Er sah dieses gelöste Gesicht. Er blickte scheu auf Irene, die so, als sei er nicht mehr da, in tiefer Versunkenheit da saß. Er fühlte etwas Unnennbares: Die Andacht der Frau teilte sich ihm mit. Er stand vor dem Herrscher und betete: 'Schenk seiner grausamen Seele den Frieden und segne Donna Irene!' schloß er innerlich und neigte sich tief vor ihr.

Irene übersah ihn, sie legte den Kopf des Herrschers zärtlich wieder auf ihre Knie.

Die Ordonannz ging zögernd aus dem Zimmer. Irene hörte, wie von außen abgeschlossen wurde.

'Armer junger Mensch', dachte Irene, 'wie ist er hilflos. Wir armen Menschen sind alle hilflos. Er aber hielt die Welt. Und die Geister dienten ihm.'

Sie war wieder allein. Sie fühlte die Todesstille. Das Wort 'Götterfriede' kam ihr in den Sinn. 'Ich kann nicht, ich kann ja nicht mehr', war alles, was sie noch denken konnte. Langsam sank ihr Oberkörper nach vorn, ihr Kopf fiel auf seine Schultern. Dort blieb er liegen.

Ihr träumte: Sie ging ganz ohne Schwere in der Luft. Farbige Bäume wuchsen um sie herum, alles war fremdartig und vertraut. 'Der Schlaf deckt mich zu', dachte sie. Aber nein, es war der Herrscher, der einen sternengewirkten Mantel über sie deckte. Er sah sie an mit Augen, die nicht blinkten. Bewegungslos und wissend: 'Bald!', sagte er, 'bald'

Das Wort fuhr in ihre Magengrube, und sie fuhr mit diesem Wort hinunter auf die Erde, auf der sie unsanft hinfiel. Sie richtete sich im Schlaf auf und saß wieder im Sphärenraum.

Marco stand neben ihr. 'Er muß gerichtet werden', sagte er.

Aber sie wehrte entschieden ab: 'ich bin ja bei ihm', sagte sie glückhaft.

Und der Herrscher, ganz fern am Eingang einer Allee, rief ihr zu: 'Bald, bald.'

Sie antwortete: 'Du mußt es siebenmal sagen.'

Und er antwortete: 'Woher kommt Dir das, Du Wissende?' 'Weil ich liebe', sagte sie, und Tränen rannen über ihr Gesicht. Von der Nässe dieser Tränen erwachte sie. Sie fühlte die Nähe des Herrschers, und ihre Tränen rannen weiter über ihre Wangen. Was war und werden würde, wußte sie nicht. Nur das eine: ihr Leben war erfüllt. 'Die Allee ist bald zuende, bald, bald. Und wenn Du es siebenmal aussprichst, stirbst Du...'

Draußen wurde der Schlüssel herumgedreht. Durch die Gardinen schimmerte erstes Tageslicht.

 

VIII.

Der Usurpator hatte am Abend befohlen: 'Morgen früh, neun Uhr, bringt Ihr mir Baranoff, gefesselt' - und es war Punkt neun, als die Türe zum Schlafzimmer des Herrschers aufgeschlossen wurde und Baranoff, Senis und Marco eintraten, nun freie Menschen. Man hatte Marco und Senis überall gesucht, um ihnen die Nachricht vom gewaltsamen Tode des Fürsten zu überbringen, ohne sie zu finden.

Die drei Freunde waren bis spät in der Nacht in Irenes Wohnung gewesen. Sie sahen keinen Ausweg. Schließlich hatte Senis vorgeschlagen, durch die Nacht zu ihm zu gehen. Sie wollten dort noch wichtige Papiere vernichten. Sie gingen langsam, wie Todgeweihte durch die späte Stille.

"Laßt uns lange unter dem Himmel weilen", sagte Baranoff. "Es ist gut, in Freiheit zu sein!"

Und so gingen sie weiter und immer weiter, als könnten sie damit den inneren Aufruhr beschwichtigen.

Als sie dann morgens in Senis' Wohnung anlangten, stumm und jeder in seinen Gedanken, erfuhren sie das Unfaßbare: Irene hatte den Herrscher erschossen. Nicht eine Bewegung entfuhr Senis und Baranoff, den die Ordonnanz anstarrte wie eine Erscheinung.

"Ja", sagte Baranoff, und nickte der Ordonnanz zu. "Ich bin es, Baranoff, ich bin frei!"

Marco wollte, außer sich, sofort zu Irene eilen. Die Freunde hielten ihn fast mit Gewalt zurück. Zu Wichtiges stand im Vordergrund. Senis befahl, das Schlafzimmer des Fürsten unberührt zu lassen, bis sie kämen.

Das Volk mußte erst von dem geglückten Attentat auf den Herrscher unterrichtet werden. Sie berieten das Notwendige. Marcos zerrissene Seele ging ihr eigenen Wege, Baranoff ließ ihn gewähren, er selbst handelte im Vollgefühl seiner Freiheit.

"Oh, Freunde", sagte er, "eine große Zeit bricht an, und das alles tat Irene für uns! Das Volk muß sie als Retterin feiern."

Sie gaben Weisungen, arbeiteten kühn. Marco war wie ein Gefesselter dabei, seine Seele war bei der geliebten Frau. Alles verblaßte vor ihrer Tat.

Als die drei Männer kurz vor neun Uhr ernst und gesammelt durch die Stadt fuhren, empfing sie eine Menschenmenge beim Aussteigen:

"Baranoff, Heil Baranoff", schrie das Volk. Und ein endloses Gemurmel: "Irene! Donna Irene!"

Senis sagte leise zu Baranoff: "Du wirst es sein, mein Freund!" Marco ging mit zusammengebissenen Zähnen dem Eingang zu. Die Menge tobte und schrie, alles feierte die Befreiung. Und so wollte es das Schicksal, daß mit dem Glockenschlag neun die Freunde vor den Herrscher traten, bei dem Irene ihre Totenandacht hielt. Senis ging als letzter. Er schloß sofort die Türe. Marco stürmte vor. Er stockte, als er Irene auf dem Boden neben dem toten Herrscher sah. Er blickte in ihr verwandeltes Gesicht, in das die Nacht ihre Spuren gedrückt hatte. Sie sah nicht auf, sie strich mit ihrem Zeigefinger leise über den Ärmel des Herrschers. Es war eine solche Zugehörigkeit in dieser Bewegung, daß Marco eine Sekunde zögerte, dann schritt er fest auf Irene zu:

"Irene", sagte er erschüttert, und als sie nicht antwortete, ihn nur fern und fremd ansah: "Irene, wir danken Dir. Alle danken Dir!"

Und ganz leise fragte er: "Tatest Du es für mich? Irene! Irene!" ihr Name klang wie ein Schrei.

Irene stand ganz langsam auf. Marco sah ihre nackten Füße und ein bedrohliches Feuer stieg in sein Gesicht. "Der Lump.. hat er..."

"Sei still", sagte Irene ganz leise. "Um Gotteswillen, sei still! Stört nicht diese Ruhe dieses Toten. Laßt mich, laßt mich in Stille bei ihm!"

Und als nun auch Baranoff sie verständnislos ansprach: "Irene, Dir gebührt der Dank eines ganzen Volkes", da schrie sie auf: "Vernehmt es, ach, vernehmt es doch von mir. Ich tat es aus Liebe. Ich tat es aus übergroßer Liebe. Laßt mich allein mit diesem meinem Herrscher. Was wißt Ihr denn? Ihr jubelt, Ihr habt Macht, ich aber vergehe."

Sie strauchelte. Senis sah es und fing sie auf. Er faßte ihre fieberheißen Hände.

"Ruhig, Irene", sagte er beschwichtigend. "Es war zuviel für Dich!" Er hob sie auf. Fühlte ihren glühenden Körper. Ihr Mantel fiel auseinander, man sah ihre Blöße. Marco knirschte mit den Zähnen: "Der Hund, dieser Hund..."

Senis fuhr ihn an: "Nehmt Euch zusammen, Marco. Helft lieber." Sie legten sie auf das Bett des Usurpators. Ein flüchtiges Strahlen ging über ihr Gesicht, sie streckte sich. Senis deckte sie unbeholfen zu. Irene fühlte die Wärme, sie fühlte: 'Hier hat er gelegen, in diesem Lager, Nacht für Nacht. Hier ist gut sein.' In ihr war eine tiefe Geborgenheit. Sie hielt die Augen geschlossen. Und, selber wie leblos, lag sie Tag und Nacht. Fieber schüttelte sie. Nur als der Herrscher herausgetragen wurde, griff sie mit einem klagenden Laut in die Luft, und ohne die Augen zu öffnen, atmete sie: 'Bald!'

Marco verließ ihr Lager nicht. Er starrte in ihr fieberndes Antlitz, gemartert, daß sie ihn nicht wahrnahm. Er wollte Klarheit haben: Was war zwischen ihr und dem Fürsten vorgefallen? Er fand keinen Schlüssel, um einzutreten in dieses Dunkel.

Sie pflegten Irene, man tat alles, was ein Mensch für den andern tun kann.

Inzwischen wurde Baranoff zum Herrscher gewählt. Das Volk verlangte Donna Irene zu sehen, es wollte ihr als Befreierin danken. Man vertröstete es mit ihrer Krankheit. Irene wußte von all dem nichts. Ihr verglühendes Herz hielt Zwiesprache mit dem Einen. Manchesmal flüsterten ihre Lippen verworrene Sätze, die niemand enträtselte. Einmal noch öffnete sie die Lider und sah Marcos übernächtigtes Gesicht an. Ihre weitherkommenden Augen mit den überschatteten Wimpern durchforschten ihn voll von Geheimnis. Sie lag unbeweglich, nur tiefernst blickte sie auf ihn, 'wie ein Erzengel', mußte er denken.

Nach sieben Tagen starb sie. Eine unübersehbare Menschenmenge folgte ihrem Sarg. Sie ging ein in die Geschichte als "Irene, die Retterin."

 

Nachwort

Mit dem Herzen sehen

 

Nach etlichen Monaten auf Schloß Donaumünster äußerte die Baronin von Bernus den Wunsch, nach einer Mappe zu suchen, auf der "Helen Landek" stünde. Darin fände sich eine Erzählung, die den Titel trüge, "Irene oder die Verwandlung eines Herzens". Ob man sie lesen könne und ihr sagen könne, ob sie etwas tauge.

Und ob sie etwas taugte, je weiter man las, desto dichter und spannender wurde sie. Wer ist Helen Landek? Wollte man wissen. Die Ahnung, daß die Baronin selbst die Autorin war, wurde wieder beiseite geschoben, denn in der Mappe fand sich auch ein Briefwechsel zwischen Helen Landek und Alexander von Bernus, der zwar vertraut klingt, aber zu distanziert für Eheleute abgefaßt ist. Das Rätsel um die Verfasserin dieser und anderer Erzählungen, die in der Mappe lagen, wurde noch größer durch den Tatbestand, daß Alexander von Bernus in einem seiner veröffentlichten Bände, in "In der Zahl der Tage" eine andere Erzählung daraus, nämlich "Eine Tür ging zu" unter seinem Namen abgedruckt hatte und in einer seiner Novellen, in "Die Blumen des Magiers" ein "Fräulein Landek" auftaucht. Hatte er doch neben Isa noch eine heimliche Freundin gehabt? Die er in eben dieser Art, wie es die Erzählung "Eine Tür ging zu" darstellt, nach Jahren einmal wiedergetroffen hatte?

Weitere Monate vergingen, und Helen Landek versank in der Vergessenheit. Abstaub- und Aufräumarbeiten brachten sie wieder zum Vorschein, diese geheimnisvolle Mappe. Und dann schien die Zeit gekommen, Farbe zu bekennen. Ja, erfuhr man, Helen sei einer ihrer Vornamen, und "Landek" sei ihr als Name gekommen.

Es gab schon viele Gründe, sie zu verehren und sehr zu lieben, die Isa von Bernus. Ihre Willenskraft, ihren Witz, ihre Wärme und diese geistige Präsenz, die sie trotz ihres Alters täglich unter Beweis stellt. Aber jetzt war noch eine weitere Facette ihrer Persönlichkeit hinzugekommen. Sie ist selber schriftstellerisch tätig gewesen, hat diese Seite an ihr aber immer unter den Scheffel gestellt. Sie fand es albern, neben dem Dichter Alexander von Bernus bestehen zu wollen.

Das ist Frauenart, sich zurückzunehmen hinter den größeren Männern. Sie findet es auch heute noch peinlich, daß ihr richtiger Name unter dieser Erzählung steht. Sie sagt, sie habe das geschrieben, aber irgendwie auch wieder nicht. Sie sei ihr "gegeben" worden. Im Grunde sei es doch Helen Landek, die dies geschrieben habe.

Es gibt viele Isa von Bernus', und Helen Landek ist eben die schreibende Isa von Bernus, so haben wir uns geeinigt.

Man könnte diese Erzählung unter verschiedenen Gesichtspunkten würdigen. Man könnte sie als erstaunlich tiefgründiges zeitgeschichtliches Dokument sehen. Denn Isa von Bernus hat diese Geschichte in der "bösen Zeit", wie sie sagt, in der Zeit des Nationalsozialismus, geschrieben. Der Usurpator, der unter diesem Blickwinkel eine literarische Verarbeitung von Adolf Hitler ist, wird von ihr bemerkenswert tief durchschaut. Man weiß heute durch vielerlei Veröffentlichungen, daß der Nationalsozialismus einer eigenen Esoterik folgte, daß zumindestens die führenden Persönlichkeiten mit okkulten Mitteln gearbeitet haben. Davon Zeugnis geben beispielsweise die SS-Schulungsbauten, die gezielt an Kraftorten errichtet wurden und kultische Räume aufweisen für Zeremonien und kultische Rituale. Isa von Bernus weiß von diesen Einzelheiten nichts. Sie hat die Kräfte, die so einem Usurpator Macht geben, intuitiv erfaßt.

Das hervorstechende Thema jedoch ist ein anderes. Und es ist d a s Thema von Isa vn Bernus, jedenfalls wie es sich gegenwärtig, im täglichen Miteinanderleben, darstellt. Es ist das Thema der Liebe.

Mit Isa von Bernus ragt noch eine andere Kultur in unser Zeitgeschehen. Nichts ist ihr fremder, als nur mit verstandesmäßigen Kategorien ihre Umwelt zu erfassen. Jeder Versuch, ihr Situationen, Sachverhalte in der nüchternen Art nahezubringen, wie wir sie lernen in der auf Verstandestätigkeit ausgerichteten Schul- und Universitätsbildung, ist zum Scheitern verurteilt. Sie versteht alle Dinge immer ganz anders. Wenn man sagt, sie "erfühlt" alles, ist man Mißverständnissen ausgesetzt. Es ist kein blindes Fühlen, es ist ein Mit-dem-Herzen-Denken.

Sie öffnet sich allen Menschen, und das, wie es in der Erzählung heißt, "ohne Waffe". Sie hat - auch für sich - keine Waffen. Sie war Schauspielerin und Rezitatorin und lebt in Gedichten. Sie lebt in der ungeschützten Offenheit, in der Gedichte von dem Ich Auskunft geben, in dem sie sich aussprechen. Für jede Situation fällt ihr eine Gedichtzeile ein. Sie kann gar nicht in nüchterner Alltagsprosa, im Berechnen und den eigenen Vorteil Abwägen denken. Diese Zugehensweise auf das Leben ist eine ungeheure Chance, aber birgt auch die Gefahr des "Übergoldens", so wie es Irene in der Geschichte widerfährt. Sie nimmt nur diese lyrische Seite des Geschehens um sie herum wahr. Und leider ist dies oft Schein oder wird von Menschen bewußt als Schein und Unaufrichtigkeit in die Welt gesetzt. Und so wurde dann diese Geschichte von Irene, die glaubt, durch Leidenschaft zur Wahrheit zu gelangen, auch in Isa von Bernus' Leben Realität. Es war eine Leidenschaft der schönen Worte, nicht eine der durchwühlten Nächte. Diese Marcos, die es auch immer gab in Isas Leben, ihr aufrichtig zugewandte Menschen, verblaßten hinter dem Popanz der vermeintlichen Größe (eines kleinen Italieners).

Es ist auch aus diesem Grund interessant, diese Geschichte zu veröffentlichen. Isa von Bernus sagt auch jetzt noch, sie sei ihr "gegeben" worden, diese Erzählung. Es ist schade, daß sie sie nicht mit vollem Bewußtsein erfaßt hat. Daß sie nicht geprüft hat, was eine Seite von ihr wußte, und die andere nicht wahrhaben wollte. Aber, genau wie Irene, hält sie ein zu großes Maß an Verletzungen nicht aus, auch heute noch nicht. Und deshalb wird sie schließlich doch noch zur Retterin, nicht eines ganzen Volkes, aber eines geistigen Kosmos', des gewaltigen Geistes Alexander von Bernus, des Dichters und Alchemisten.

Oktober 1996

Irmhild Mäurer

Irene oder die Verwandlung eines Herzens. Raphael Heinrich Verlag. Berlin 1996.